Das Interesse von Anwältinnen und Anwälten dank künstlicher Intelligenz ist mittlerweile fast so gross wie deren Skepsis, dass diese Technologie ihr Geschäftsmodell tatsächlich grundlegend verändern könnte. Dabei hat der Transformationsprozess bereits an Fahrt aufgenommen und dürfte auch für Bürgerinnen und Bürger ein Präsent bereithalten.
K3LM. Das kryptische Kürzel steht für «Kelvin Legal Large Language Model». Es ist das erste KI-Sprachmodell, das spezifisch und von Grund auf neu mit kuratierten, juristischen Inhalten trainiert und Ende Februar 2024 vom US-Unternehmen 273 Ventures vorgestellt wurde. Rund zehn Monate früher als ursprünglich geplant. Eingesetzt werden soll das Sprachmodell vorerst bei Applikationen im juristischen und regulatorischen Umfeld.
Nur wenige Tage später präsentierten die grösste deutsche Wirtschaftskanzlei CMS und das KI-Start-up Xayn mit «Noxtua» das erste KI-Sprachmodell Europas, welches insbesondere dem strengen europäischen Datenschutz Rechnung tragen soll. Es braucht nur wenig visionäre Kraft, um sich vorstellen zu können, dass solche KI-Sprachmodelle auch für die Schweizer Jurisdiktion entwickelt werden. Damit dürften juristisch fehlerhafte Inhalte, die von einer KI generiert wurden und für ein paar Lacher gut waren, bald der Vergangenheit angehören.
Die Diskussion bewegt sich somit weg vom Hype hin zur Frage, wie sich das Angebot von Anwältinnen und Anwälten verändern wird, wenn Legal-Chat-GPTs das Rechtswissen faktisch demokratisieren und juristischer Rat auch von KI-Applikationen eingeholt werden kann. Viel Zeit, um darüber nachzudenken, bleibt derweil nicht. Seit OpenAI ChatGPT frei zugänglich gemacht hat und dem Launch der ersten KI-Sprachmodelle, die sich auf juristische Inhalte spezialisiert haben, sind keine 18 Monate vergangen.
Technologische Entwicklung verläuft exponentiell. Dies tangiert auch den Rechtsmarkt, unabhängig davon, ob wir das wollen oder nicht. Grosse Wirtschaftskanzleien und Unternehmensrechtsdienste haben die Implementierung von LegalTech deshalb schon seit Jahren auf dem Radar. Sie leisten sich Innovation-Teams, um Prozesse und Angebote neu zu denken. Damit konnten sie die Effizienz steigern, repetitive Arbeiten automatisieren und den Fokus ihrer teuren Arbeitskräfte auf komplexe und strategische Aufgaben lenken.
Deutlich weniger präsent ist LegalTech indessen im Schweizer Konsumentenmarkt. Zu klein scheint er auf den ersten Blick und mit seiner Sprachenvielfalt sowie der fragmentierten Gesetzeslage hält er weitere Hürden bereit. Onlineplattformen, welche Verbraucherrechte durchsetzen, kann man in der Schweiz an einer Hand abzählen und lukrativ war deren Geschäft bisher kaum.
Ganz anders die Situation im deutschen Rechtsmarkt. Hier ist das Thema «Zugang zum Recht» ein wichtiger Treiber von LegalTech. Start-ups haben in den letzten Jahren erfolgreich Geschäftsmodelle und Onlineplattformen lanciert, die auf Masse setzen und auch kleinere Konsumentenforderungen erstreiten. Sei es bei Fluggastrechen, im Arbeits- und Telekommunikationsrecht, bei Mietstreitigkeiten oder bei Forderungen im Zusammenhang mit dem Dieselskandal, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Das Stichwort hierzu heisst «Legal Fracking» und umschreibt den Prozess mittels Technologie und einem hohen Automatisierungsgrad, die Verarbeitungskosten und -risiken eines Rechtsfalles dermassen zu reduzieren, dass auch kleinere Ansprüche gewinnbringend durchgesetzt werden können. Den Begriff geprägt hat Dr. Daniel Halmer, der mit seinem Unternehmen Conny heute zahlreiche Rechtsdienstleistungsplattformen für Verbraucherrechte anbietet.
Je grösser der Rechtsmarkt, desto einfacher skalieren solche Plattformen. In den USA erwirtschaftete die Onlineplattform LegalZoom im Jahre 2023 bspw. über 660 Millionen Dollar. Um jedoch auch in einem kleineren Rechtsmarkt auf einen grünen Zweig zu kommen, müssen die Prozesse weitgehend standardisiert und automatisiert ablaufen.
Mit den technologischen Möglichkeiten, die bisher zur Verfügung standen, konnten solche Angebote nur im beschränkten Masse realisiert werden. Dank KI-Applikationen, die auf spezialisierten Legal Large Language Models basieren, bieten sich jedoch neue Möglichkeiten, um automatisiert juristische Dokumente zu generieren, Rechtsberatung zu erteilen oder Schlichtungsvorschläge zu erstellen.
Technologien, die den Kern der juristischen Tätigkeit tangieren, wurden schon oft versprochen. Geschehen ist bisher wenig. Viele Juristinnen und Juristen arbeiten auch heute noch, wie sie es seit 25 Jahren tun. Und so weit liegt auch die letzte Innovation zurück, die tatsächlich einen signifikanten Impact auf deren Tätigkeit hatte: das Internet. Es hat sich Ende der 90er-Jahre zu einem Massenphänomen entwickelt und damit auch die juristische Arbeit grundlegend verändert.
Erfindungen wie das Internet sind sogenannte Sprunginnovationen; radikale Neuerungen, die einen existierenden Markt grundlegend verändern. Weitere Beispiele sind Transistoren, die als Grundbausteine der modernen Elektronik dienen, Antibiotika, die Dampfmaschine und in jüngster Vergangenheit mRNA-Impfstoffe.
Künstliche Intelligenz ist keine Sprunginnovation. Seit 70 Jahren wird geforscht und investiert. Eine lange Anlaufzeit, die Milliarden von Dollar verschlungen und Millionen von Wissenschaftlern, Investorinnen und Anwender frustriert hat. Nun geht es aber endlich los und KI wird als grundlegende Technologie Sprunginnovation ermöglichen. Auch in der Rechtsbranche.
Innovation in der Jurisprudenz ist denn auch dringend angezeigt. Insbesondere, wenn es darum geht, Rechtsdienstleistungen erschwinglicher und damit zugänglicher zu machen. Aber auch um die notorisch überlasteten Gerichte dabei zu unterstützen, veraltete, ineffiziente Methoden abzustreifen und digitale Werkzeuge konsequenter einzusetzen.
Wir haben in der Schweiz eines der teuersten Justizsysteme von Europa und gemäss einer repräsentativen Umfrage des Schweizerischen Versicherungsverbandes scheut sich eine Mehrheit der Befragten, bei Rechtsstreitigkeiten anwaltliche Unterstützung einzuholen. Aus Angst vor den Kosten.
Damit das Vertrauen in unseren Rechtsstaat nicht erodiert, muss eine Mehrheit der Bevölkerung einen unkomplizierten, bezahlbaren Zugang zur Justiz haben. Der Begriff beschränkt sich dabei nicht auf Gerichtsverfahren, sondern umfasst auch Rechtsberatung, neuartige Streitlösungsmechanismen und die Gewissheit, im Falle eines Rechtsstreites nicht aus rationalem Desinteresse auf seine Ansprüche verzichten zu müssen. Mit unentgeltlicher Rechtspflege allein ist es noch nicht gemacht. Ziel muss es sein, mit frischen Konzepten sowie der Einbindungen aller technologischer Möglichkeiten einer breiten Masse Zugang zum Recht zu ermöglichen. Die Voraussetzungen, und damit auch die Chance, dass uns dies gelingt, standen noch nie so gut.
Text Ioannis Martinis, Head of Innovation bei Coop Rechtsschutz, Vizepräsident der Swiss Legal Tech Association & Studiengangsleiter CAS Legal Tech HWZ
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