Vor einem Jahr sprach «Fokus» mit der aufstrebenden Schweizer Dragqueen Amélie Putain. In der Zwischenzeit hat der Lehrer und Künstler eine eigene Show produziert und ist im grössten Travestietheater Europas aufgetreten. Höchste Zeit für ein Update!
Amélie Putain, was kostet Drag – mit all der Kosmetik, den Kostümen und vielem mehr?
Drag kann von sehr wenig bis sehr viel kosten. Anfangs kann es schon überwältigen, weil es unterschiedliche Disziplinen beinhaltet und man sich viele Skills aneignen und Ausstattung kaufen muss. Ich war zu Beginn auf Make-up fixiert. Aber ich brauchte auch noch Kostüme, Perücken, Schuhe, Korsetts, Padding, Strumpfhosen und so weiter.
Heutzutage setzen die grossen Dragszenen hohe Standards an sich selbst. Ich habe mit einer 30-Euro-Perücke von AliExpress begonnen und diese für ein Jahr getragen. Das hat funktioniert (lacht). Je spezieller die Wünsche sind – zum Beispiel, wenn man sich Kostüme schneidern lässt – desto teurer wird es. Man kann unendlich viel Geld dafür ausgeben. Wenn ich auf meine Ausgaben zurückschaue, trifft mich schon der Schlag. Im Laufe der Zeit sammelt sich einiges unbemerkt zusammen.
Aber wenig Geld sollte niemanden von Drag abschrecken. Man braucht keine teuren Kostüme. Am Ende des Tages zählen die Idee und die Umsetzung. Ich liebe DIY-Drag mit ein bisschen Heisskleber (lacht). Man erreicht die Menschen nicht mit teuren Stoffen und aufwendigen Perücken. Was eine Nummer ausmacht, ist die Bühnenpräsenz.
Wie hat sich Amélie seit unserem letzten Interview verändert?
Ich bin gefestigter darin, in welche Richtung ich mit Amélie gehen möchte. Gewisse Dinge habe ich abgelegt, von denen ich dachte, dass man sie als Dragqueen machen müsste, zum Beispiel Splits. Das ist dann doch nicht meins und man wird auch älter (lacht). Es soll mehr in Richtung Cabaret, Singen und Hosting gehen. Ich habe gemerkt, dass mich dieser Zweig interessiert, die Menschen mit Sprache zu erreichen. Vor einem Jahr hätte ich mich das noch nicht getraut, auch aus Mangel an Erfahrung.
Es standen viele Projekte an, die Tür und Tor für weitere Bereiche und ein grösseres Publikum öffneten. Es sind Leute hinzugekommen, mit denen ich zuvor nicht in Berührung kam und die nicht unbedingt Zugang zu Drag haben. Zum Beispiel bin ich an Hochzeiten und Firmenanlässen aufgetreten. Das sind neue Formen von Auftritten, die ich megacool finde.
Und wie hat sich Felix verändert?
Ich bin ein stolzer geworden, Odette Hella’Grand färbt tatsächlich ab (lacht). Die Selbstsicherheit, die Amélie dazugewonnen hat, überträgt sich auch auf Felix. Manchmal lasse ich nun die Diva mehr raushängen. Felix steht aber nach wie vor eher im Hintergrund. Eine Balance zwischen den beiden habe ich noch nicht ganz erreicht. Dieses Gleichgewicht zu etablieren, wird die Herausforderung der nächsten Jahre werden.
Im letzten Interview bezeichnetest du Amélie als sich ausbreitende Mitbewohnerin. Sie scheint nun Hausherrin zu sein.
Ja, sie ist Hausherrin. Ich ziehe sogar in eine deutlich grössere Wohnung um, in der ich zwei Dragräume einrichten kann. Einerseits ein Lager für Kostüme und andererseits ein Produktionsstudio. Mit dem Podcast läuft mehr und ich habe neulich auch als Sprecher gearbeitet. Zudem möchte ich eine fixe Leinwand installieren, sodass die Fotograf:innen mich besuchen können. Es findet ein Umdenken statt.
Ist es dein Ziel, Drag als Hauptberuf auszuüben?
(lacht) Ich bin tatsächlich an einem Punkt, an dem ich mir das überlegen könnte. Als Amélie bin ich ja schon selbstständig und angemeldet. Und dieses Jahr kommen vermehrt neue Anfragen, um zu hosten oder zu singen. Das ist schön, aber auch etwas, dass man sich gut überlegen muss. Ich habe das Leben von Künstler:innen gesehen und der Lebensstandard ist recht niedrig. Ich mag einen hohen Lebensstandard (lacht). Drag als Hauptberuf ist eine Überlegung, die nicht nur positiv ist.
Dein eigentlicher Hauptberuf ist Lehrer. Was gefällt dir daran?
Ich liebe alles an diesem Beruf. Sowohl die Arbeit mit den Jugendlichen – sie weiterzubringen, sie herauszufordern oder sie in schwierigen Lebenssituationen aufzufangen – als auch die Unterrichtsentwicklung und -planung. Es ist ein sehr abwechslungsreicher Beruf. Man muss viele Standards einhalten und trotzdem kann man die Arbeitszeit flexibel füllen. Die Mischung aus Präsenz- und Ferienzeit sowie Gruppen- und selbstständiger Arbeit ist toll. Ausserdem hält die Jugend einen wahnsinnig fit und up to date.
Der Lehrberuf hat auch viele Gemeinsamkeiten mit Drag. Beispielsweise kann man das Hosting in Drag und das Stehen vor der Klasse miteinander vergleichen. Ich meine nicht das theatralische Entertainment oder die Selbstdarstellung, vielmehr das Herausspüren, wie es dem Publikum oder eben den Schüler:innen geht und was sie brauchen. Als Host auf der Bühne und als Lehrer im Klassenzimmer muss ich die Aufmerksamkeit lenken können und den Unterricht oder die Show entsprechend planen. So profitieren die beiden Tätigkeiten voneinander.
Was überrascht bei der Arbeit mit Jugendlichen?
Zum einen natürlich die Sprache. Ich dachte, ich wüsste ungefähr, was läuft. Aber manchmal habe ich keine Ahnung, was sie sagen möchten oder was es bedeutet. Besonders wenn sie untereinander kommunizieren. Meinen Eltern ging es vermutlich ähnlich, als ich in diesem Alter war.
Zum anderen die Dinge, die sie beschäftigen. In der aktuellen Lage mit den vielen Konflikten, dem Klimawandel und den Identitätsfragen. Es sind viele Ängste und offene Fragen da. Sie wissen manchmal auch nicht so recht, was diese Dinge für sie bedeuten und wie sie sie einordnen sollen. Es ist eine herausfordernde Zeit im Leben der 16-Jährigen.
Du warst auch einmal in Drag in der Schule. Was denken die Schüler:innen von Amélie? Was waren die Reaktionen?
Von Gleichgültigkeit bis zu Faszination ist alles dabei (lacht). Manche der Jugendlichen waren sofort Feuer und Flamme. Bis heute sind sie sehr interessiert und fragen viel nach, ob ich Auftritte hatte.
Andere interessiert es gar nicht oder sie verstehen nicht, wieso ich das mache. Sie äussern sich aber nicht negativ. Das finde ich eine gesunde Einstellung. Ich weiss aber, dass das an einer Regelschule eventuell anders wäre.
Wieder andere Schüler:innen sind noch nicht so weit in der Entwicklung. Vielleicht kann man es sich wie ein Fünftklässler, der im Körper eines Neuntklässlers steckt vorstellen. Demnach tangieren sie Themen wie Sexualität und Identität noch nicht wirklich.
Gibt es Schüler:innen, die damit überfordert wirken?
Vereinzelt vielleicht schon, aber mehr, weil es nicht Teil ihrer Lebenswelt ist. Ich arbeite an einer Schule für verhaltensauffälligere Jugendliche und in meiner Klasse sitzen momentan nur Jungs. Bei einigen ist die Lebenswelt klein. Sie kennen die Eltern und die Schule. Europa und die Welt sind da ganz weit weg und manchmal wundern sie sich auch über für uns alltägliche Dinge. Dann ist Travestie etwas völlig Ausserirdisches.
Mit Paula Meyer hast du eine eigene Show, «Zucker, Brot und Peitsche», auf die Beine gestellt. Wie war es, diesen Traum zu verwirklichen?
Es war megacool. Schon immer wollte ich eine eigene Show machen und dies nun mit Paula Meyer erreicht zu haben, ist grossartig. Es war ein richtiges Abenteuer, dieses Theaterstück mit Livegesang und einer eingängigen Message umzusetzen. Diese Mischung aus Oper und Drag gibt es auch nicht so häufig.
Identität ist ein universelles Thema, das nicht nur queere, junge Menschen anspricht.
Worum gehts?
Im Kern geht es um Identität. Wer bin ich? Wie akzeptiere ich mich? Wann bin ich gut genug? Wer bin ich hinter der Person, die ich auf der Bühne spiele? Was passiert, wenn ich alles abschminke? Während des Entstehungsprozesses sind uns rund um diese Fragen Parallelen zwischen Operngesang, Opernkarrieren und Drag aufgefallen. Es ist ein universelles Thema, das nicht nur queere, junge Menschen anspricht.
Was konntest du aus dieser Erfahrung mitnehmen?
Es war spannend, aus dem Fünf-Minuten-Denken herauszukommen. Für eine übliche Dragnummer packt man alles rein, was geht. Wenn man aber eineinhalb Stunden auf der Bühne steht, ist das ein völlig anderer Spannungsbogen. Man muss die Menschen auf eine neue Art erreichen. Auch mit Profis zu kollaborieren und auf sie zu vertrauen, war eine neue Erfahrung, wie zum Beispiel mit Leandra Reiser, die atemberaubende Texte schrieb, und der Regisseurin Nikolina Do.
Du konntest dir noch einen weiteren Traum erfüllen: ein Engagement im Hamburger Pulverfass. Wie ist es dazu gekommen?
Es war mein grosser Traum, einmal im Pulverfass aufzutreten. Andere träumen von Drag Race, ich träume vom Pulverfass. Angefangen hat es mit Gisela Kloppke bei «OHG! It’s Drag» im Dezember 2023. Bei den Proben habe ich sie über das Pulverfass ausgefragt und gesagt, dass ich gerne einmal dabei wäre. Wie es der Zufall so wollte, hatte das Pulverfass vergessen, den Host für die Show «Grand Hotel» vertraglich zu sichern. Als Alternative hat Liu Bohème unter anderem mich vorgeschlagen. Als ich den Anruf bekam, habe ich sofort zugesagt, obwohl ich keine Ahnung hatte, was da auf mich zukommt.
Und was kam auf dich zu?
Es war eine krasse Erfahrung. Das war Drag als Hauptberuf für drei Wochen: Fünf Tage die Woche mit sechs Shows in Drag. Jeden Tag dieselbe Show auf einer riesigen Bühne mit vielen Möglichkeiten. Es war grossartig und unglaublich spannend.
Ich habe im Pulverfass das erste Mal gehostet und war zu Beginn enorm nervös. Aber Eve Champagne und Gisela Kloppke haben mich durchwegs unterstützt. Sie haben mir immer wieder Rückmeldung und Verbesserungsvorschläge gegeben, wie in einer Kurzausbildung. In den drei Wochen habe ich eine unglaubliche Entwicklung durchlaufen.
Hast du bereits einen neuen Traum?
Ich würde gerne weitere eigene Shows auf die Beine stellen. Zum Beispiel denke ich an etwas Ähnliches wie «Zucker, Brot & Peitsche», vielleicht zu einem anderen Thema.
Zurzeit laufen auch Gespräche, mit dem Podcast «Drags Uncut» eine Liveshow zu machen. Wir denken an eine Spieleshow à la «Wetten, dass…» mit weiteren Drags.
Und ich würde sehr gerne ins Pulverfass zurückgehen. Wie in der Schweiz «OHG! It’s Drag» ein Sprungbrett darstellt, ist es das Pulverfass für Deutschland.
Wenn du schon den Podcast mit Vio La Cornuta ansprichst: Wie ist die Idee entstanden und welches Ziel verfolgt ihr damit?
Ich hatte schon immer den Wunsch, Drag aus der Schweiz zu porträtieren. Ursprünglich dachte ich an eine Youtube-Serie mit Interviews verschiedener Drags. Aber eigentlich liegt mir schon eher alles, was mit Sound zu tun hat. Ein Podcast ist ein praktisches Medium, um das Visuelle einmal zurückzustellen und dem Wort selbst grosse Bedeutung zuzusprechen.
Ein Podcast ist ein praktisches Medium, um das Visuelle einmal zurückzustellen und dem Wort selbst grosse Bedeutung zuzusprechen.
So haben wir das einfach mal gestartet. Mit Vio La habe ich mich schon immer gut verstanden und wir quatschen einfach gerne. Entstanden ist daraus eine Mischung aus Tratsch und ernsten Themen. Da schlägt vielleicht der Lehrer durch, aber ich finde, Drag ist ein Stück weit auch ein Bildungsauftrag. Ich will auch etwas vermitteln und aufklären.
«Drags Uncut» ist ein Herzensprojekt, weil wahnsinnig viel Arbeit dahintersteckt und wir ein Publikum von einigen Hundert bespielen. Doch sie hören genau hin, stellen Rückfragen und posten auf Social Media.
Vor einem Jahr meintest du noch, dass dich Reality-Formate wie RuPaul’s Drag Race langweilen. Konnte Drag Race Germany etwas daran ändern?
Ich fand es unterhaltsam, insbesondere weil Drags dabei waren, die man schon lange kennt und die Sendung auf Deutsch war. Und es ist schön, dass die Schweiz auch zeigen konnte, was wir draufhaben. Tessa Testicle wird mit RuPaul’s Drag Race Global All Stars gross rauskommen. Zudem ist Co-Host Barbie Breakout eines meiner grossen Vorbilder.
Ich selbst würde aber immer noch nicht mitmachen wollen. Ich glaube nicht, dass ein solches Format der Figur von Amélie entspricht. Ares wäre zum Beispiel die perfekte Kandidatin. Sie macht unglaublich tolle Dinge und wäre TV-Gold!
Noch zu einem ernsten Thema: Auch die Schweiz befindet sich in einem anti-queeren Backlash. Und doch hat am ESC die nonbinäre Person Nemo den Sieg geholt. Gibt dir das Hoffnung für die Zukunft?
Es gibt mir auf jeden Fall Hoffnung. Es katapultiert das Thema Nonbinarität ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Selbst in der LGBTQ+-Community stehen oft die schwulen Männer im Mittelpunkt. Lesbische, bisexuelle, trans und nonbinäre Menschen bleiben noch oftmals im Schatten. Ich finde es cool, dass Nemo gewonnen hat und nun Wünsche äussern und gehört werden kann. Das ist zwar politisch, aber das war der ESC schon immer.
Queere Menschen erfahren in den letzten Jahren vermehrt wieder diesen Backlash. Wir müssen Stellung beziehen und uns nicht abbringen lassen, unseren Raum verteidigen und weiterhin sichtbar sein. Gerade unter den aktuellen Umständen, in denen Gesellschaften sich nicht nur nach rechts, sondern in die Rechtsextremität bewegen. Es ist ganz wichtig, dass Menschen wie Nemo Sichtbarkeit erhalten und ihre Anliegen teilen können.
Nemo wurde zum Beispiel von einem der Fernsehkommentatoren misgendert. Das ist eigentlich cool, weil er sich sofort korrigiert und entschuldigt hat. Das Ziel ist nicht, Fehler nicht zu machen, sondern aus den Fehlern zu lernen. Auch ich misgendere ab und zu, denn dieses sprachliche Denken ist für das Deutsche ungewöhnlich. Aber sobald man sich ein wenig umgewöhnt hat, eröffnen sich viele neue Möglichkeiten.
Mehr von Amélie Putain:
Website: amelieputain.ch
Instagram: @theamelieputain
YouTube: The Amelie Putain
Podcast mit Vio La Cornuta: Drags Uncut
Lust auf mehr Drag? Lies auch das erste Interview und die Gespräche mit «Queen of the Scene» Milky Diamond und «Gen Z Tornado» Ares!
Interview Kevin Meier
Headerbild Photographtastic
Amélie ist einfach iconic – so eine beeindruckende und intelligente Dragqueen! Danke Kevin, für das tolle Interview <3
Mega tolles Interview zu wichtigen Themen!
Spannendes Update und werde mir definitiv den Podcast anhören! Danke Kevin!