Interview von Elma Pusparajah

Ein Leben mit Morbus Crohn: Grosse Hürden, grösserer Lebenswille

Morbus Crohn (MC) ist eine chronische, entzündliche Erkrankung, die den ganzen Verdauungstrakt betrifft, in schweren Fällen auch weitere Organe. Lukas Betschart, 22, wurde mit der Krankheit geboren. «Fokus» hat mit dem Betroffenen und seiner Mutter Christa gesprochen.

Morbus Crohn (MC) ist eine chronische, entzündliche Erkrankung, die den ganzen Verdauungstrakt betrifft, in schweren Fällen auch weitere Organe. Lukas Betschart, 22, wurde mit der Krankheit geboren. «Fokus» hat mit dem Betroffenen und seiner Mutter Christa gesprochen.

Lukas, bei dir wurde bereits als Kind Morbus Crohn diagnostiziert. Weisst du noch, wie du dich damals gefühlt hast?

L: Ehrlich gesagt, nein. Ich kann mich nur noch an meine dicken Hamsterbacken wegen der Cortisontherapie erinnern.

C: Lukas ist mit einem Immundefektsyndrom und Morbus Crohn geboren, deshalb kennt er es nicht anders. Er ist reingewachsen und das ist seine Normalität. Ausserdem hatte er eine Sonderschule besucht, in der seine Krankheit nicht auffiel.

Lukas und Christa Betschart

Lukas und Christa Betschart

Wann habt ihr bemerkt, dass Lukas etwas hat?

C: Schon wenige Tage nach der Geburt, da er Infektionen bekam. Antibiotika haben dagegen geholfen, aber als wir versucht hatten, die Medikamente abzusetzen, lag er im Sterben. Lukas kam als Frühchen mit einem neonatalen Crohn auf die Welt, was unüblich ist und deshalb nicht erkannt wurde. Daraufhin hat Cortison geholfen. Sein Immunsystem wurde dadurch jedoch zusätzlich geschwächt, was wiederum viele Infekte begünstigte und erneut Antibiotika erforderte. In seinen besseren Tagen hatte er noch gegessen, aber dann wurde er schwächer und nahm nichts mehr zu sich. Bis heute hat er deshalb eine Magensonde. Zu jener Zeit haben wir die Stiftung Joël Kinderspitex entdeckt, welche ein Segen für uns war.

War es eine Erleichterung, als endlich eine Diagnose gestellt wurde?

C: Als Lukas ein Jahr alt war, gelangten wir an einen sehr erfahrenen Kinder-Gastroenterologen. Alle Symptome deuteten auf Morbus Crohn. Die Diagnose bestätigte sich damals noch nicht, aber die Therapie richtete sich nach MC. Lukas war über Jahre häufiger krank als gesund, denn die Medikamente beeinflussen das Immunsystem enorm und begünstigen somit Infekte, ausserdem war der MC immer aktiv. Der Arzt war eine grosse Hilfe für uns; ohne ihn würde Lukas nicht mehr leben. Die definitive Diagnose erhielten wir im Jahr 2009, als Lukas ein Ileostoma, ein Dünndarmstoma bekam. Er hatte innere und äussere Fisteln im ganzen Darmbereich – eitrige Stellen, die Gänge im Körper bilden – eine Unart von MC. Das Stoma war dann eine Erlösung für ihn. Der ganze krankhafte Dickdarm wurde entfernt, Fistelgänge saniert. Lukas war damals sehr geschwächt und kann sich kaum an diese Zeit erinnern.

Lukas, wie geht es dir heute? Kannst du nun besser mit der Krankheit umgehen?

L: Es geht mir gut. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich habe mich an dieses Leben angepasst. Doch ich merke Unterschiede zu Gleichaltrigen, das kann manchmal schwer sein.

C: Lukas hat gesundheitlich eine gute Stabilität erlangt. Dank Wachstumshormonen wuchs er zu einer akzeptablen Grösse heran. Die jahrelange Cortisontherapie konnte in der Pubertät gestoppt werden, denn dieses Hormon hemmt das Wachstum bei Kindern. Als Familie leben wir eine andere Normalität, die für uns normal ist.

Lukas, du hast oftmals keinen Hunger oder Gelüste. Was ist dein Lieblingsessen, wenn du mal einen kleinen Hunger verspürst? 

L: Momentan sind es Burger, Pizza, Rindsfilet, Käse, Sbrinzrollen und der Appenzeller Spezialkäse.

Christa, wie erging es dir in dieser Zeit als Mutter?

C: Diese Zeit war sicher kein Spaziergang. Lukas hätte mehrmals sterben können und ich war oftmals an meinen Grenzen, obwohl ich Hilfe hatte. Eine solche Krankheit verändert zudem die Familie und Beziehungen. Dank der Joël Kinderspitex durfte Lukas zu Hause bleiben, was vieles erleichterte.

Inwiefern kann euch das Team vom Kinderspitex entlasten?

L: Sie können mich im Alltag unterstützen. Sie helfen mir, mit Gesprächen auf andere Gedanken zu kommen. Es tut mir gut, dass jemand von aussen kommt. Sie sind ein liebenswertes Team von Pflegenden.

C: Sie übernehmen die Pflege, leiten mich an und beraten mich. Sie wären zudem sofort zur Stelle, wenn ich ausfallen würde. Das ist sehr beruhigend für mich! Die Pflegenden kennen Lukas, fördern ihn in seiner Selbständigkeit zur Stroma- und Magensonden-Pflege, bereiten Sondennahrung vor und richten seine Medikamente.

Wie ist das für dich, dass du noch von der Kinderspitex unterstützt wirst und nicht von einer Erwachsenenspitex?

L: Ich weiss nicht, wie die Erwachsenenspitex wäre. Ausserdem bin ich froh, dass ich nicht nochmals alles erklären muss. Ein Spitex-Wechsel wäre aufwendig, da es bei mir vieles zu beachten gibt.

C: Für die Familie ist es sehr wertvoll, ein eigenes konstantes, flexibles und grossartiges Team für ihr Kind zu haben.

Du hast 2020 eine praktische Ausbildung im Detailhandel nach INSOS abgeschlossen. Wieso hast du dich für diesen Bereich entschieden?

L: In eine geschützte Werkstatt wollte ich nicht gehen und meinen Traumberuf als Landmaschinenmechaniker oder Bauer konnte ich nicht ausüben. Im 9. Schuljahr durfte ich bei uns in den Dorfladen schnuppern gehen. Mir haben die Arbeit sowie der Kontakt mit der Kundschaft gefallen, wobei sie manchmal viel redet. Die Chefin gab mir die Chance, im Teilpensum bei ihnen im Team mitzuarbeiten. Sie zeigen viel Toleranz bei Krankheit und Arztbesuchen. Zudem habe ich einen kurzen Arbeitsweg und eine für mich körperlich machbare Arbeit.

Ich bin ein wertvoller Mitarbeiter geworden, das schätze ich enorm. Lukas Betschart

Welche Hürden musstest du für eine Lehre überwinden?

L: Der Arbeitsplatz musste für mich angepasst werden. Ich brauchte einen Stuhl für die Kasse und ein «Böckli» für die Käsetheke, dies hatte die Ergotherapie vorgeschrieben. Ausserdem musste ich die Arbeitstätigkeiten wie Käse einpacken in der Therapie üben, was mich nervte. Aber die Arbeitshilfen erleichterten meine Tätigkeiten, da ich kleiner bin als die anderen.

C: Der Arbeitgeber ist Lukas sehr entgegengekommen und hat mitgeholfen, dass er trotz des Handicaps erstmals Fuss im ersten Arbeitsmarkt fassen konnte.

Wie gefällt dir deine Arbeit heute?

L: Heute darf ich an der Kasse arbeiten, was ich gerne mache. Seit meiner Ausbildung habe ich mir Wissen angeeignet und bin ein wertvoller Mitarbeiter geworden, das schätze ich enorm. Heute arbeite ich zwischen 50 und 60 Prozent.

C: Lukas bekommt sechs Wochen Ferien und arbeitet dort im Stundenlohn. Er bekommt eine hundertprozentige IV-Rente. Deshalb ist sein Lohn wie sein Taschengeld.

Was ist deine Lieblingsbeschäftigung bei der Arbeit?

L: Ich helfe der Kundschaft gerne beim Tragen der Taschen. So trainiere ich meine Muskeln und komme an die frische Luft. Ausserdem hüte ich gerne den Laden, damit die Chefin Büroarbeiten erledigen kann.

Was machst du gerne, wenn du mal einen freien Tag hast?

L: Töfflifahren im Sommer, Computer oder Nintendo spielen, Rasen mähen, den Bauer begleiten und chillen. Am liebsten spiele ich mein Landwirtschaftssimulatorspiel.

Wie oft ist es dir möglich, etwas mit deinen Freunden zu unternehmen?

L: Ich bin gerne für mich und spiele am Computer.

C: Freundschaften, vor allem solche mit anderen mit Handicaps, sind ein komplexes Thema für Lukas, da alle individuelle Bedürfnisse haben. Bei Gleichaltrigen ohne Einschränkungen kann Lukas nicht mithalten.

Weshalb kann es für dich schwieriger sein, Freundschaften zu pflegen?

L: Ich kann weniger spontan sein, ausserdem habe ich geringe Ausdauer und Kraft, vor allem wenn ich gearbeitet habe. Dann bin ich abends müde und gehe zeitig schlafen. Hitze und Kälte vertrage ich wegen der Infektanfälligkeit schlecht. Aufgrund der Epilepsie kann ich nicht lange in Clubs wegen des Blitzlichts gehen. Diese Faktoren erschweren Freundschaften. Vor einigen Tagen wurde ich von einer ehemaligen Arbeitskollegin gefragt, ob ich mit ihr und einer Freundin ans Waldfest möchte, da habe ich mich gefreut und zugesagt.

C: In diesem Moment war er auch sehr stolz darauf, dass er mal gefragt wurde. Er hat noch lockeren Kontakt zu einigen ehemaligen Schulfreund:innen. Zudem gibt es Organisationen, die begleiteten Ausgang anbieten und Ausflüge planen, aber da blockt Lukas ab. Er müsste dafür offener sein.

Schliesst die Menschen mit Handicaps nicht aus und fragt uns auch, ob wir bei euren Aktivitäten mitkommen wollen. Lukas Betschart

Gibt es eine Plattform, die helfen könnte?

L: Ich hatte mal Tinder, aber das kam nicht gut an (lacht).

C: Bei mir kam es nicht gut an. Es gibt Plattformen wie «EnableMe» oder «deindate.ch», die Menschen mit Handicap bei der Freundschafts- oder Partnersuche unterstützen.

Was war das Aufregendste, das du bisher erlebt hast?

L: Ich habe viele faszinierende Erinnerungen mit meinem Bruder von den Rasentraktorrennen.

Was würdest du dir für deine Zukunft wünschen?

L: Ich hätte gerne wieder eine Freundin, eine gute Mittwochsarbeit, da ich die freiwillige Schule beendet habe, einen Goldesel (lacht), Stabilität und keine Epilepsieanfälle mehr.

C: Ich wünsche Lukas eine tolle Mittwochsbeschäftigung in einer Männerdomäne, die ihm gefällt und einen Ausgleich zur Schule und dem Dorfladen sein kann. Ich wünsche ihm gute gesundheitliche Stabilität, eine lässige Freundin und ganz viel Mut zur Selbständigkeit und Erwachsenwerden!

Lukas, was würdest du gerne anderen Jugendlichen weitergeben?

L: Man lebt nur einmal. Nehmt alle Menschen so an, wie sie sind. Schliesst die Menschen mit Handicaps nicht aus und fragt uns auch, ob wir bei euren Aktivitäten mitkommen wollen.

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25.08.2022
von Elma Pusparajah
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