Interview von Lisa Allemann

Frau Holle: Es war einmal vor langer Zeit…

Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleissig, die andere hässlich und faul. Was dann geschieht, könnte jedes Kind nacherzählen. Hinter dem Märchen um Frau Holle, welche die fleissige Tochter mit Gold und die faule mit Pech überschüttet, steckt jedoch mehr als eine frei erfundene Geschichte. «Fokus» begibt sich zusammen mit Frau Holle in längst vergangene Zeiten.

Eine Witwe hatte zwei Töchter, davon war die eine schön und fleissig, die andere hässlich und faul. Was dann geschieht, könnte jedes Kind nacherzählen. Hinter dem Märchen um Frau Holle, welche die fleissige Tochter mit Gold und die faule mit Pech überschüttet, steckt jedoch mehr als eine frei erfundene Geschichte. «Fokus» begibt sich zusammen mit Frau Holle in längst vergangene Zeiten.

Frau Holle, auch heute noch sind Sie jedem Kind ein Begriff. Wie kam es dazu?

Unter dem Namen Frau Holle oder mancherorts auch Perchta wurde ich dank der Brüder Grimm weltweit bekannt. Diese machten es sich zur Aufgabe, mündlich überlieferte Märchen und Sagen zu sammeln und schriftlich festzuhalten. Teilweise wurden die zusammengetragenen Erzählungen mehr oder minder stark überarbeitet, jedoch entsprangen sie nie allein der Fantasie. So war das auch mit mir. Um mich rankten sich schon lange vor den Brüdern Grimm Sagen und Geschichten, die beinahe in Vergessenheit geraten sind. Doch eine gewisse Dorothea Wild erinnerte sich an mich und überbrachte die Erzählung den Brüdern, welche im Jahre 1812 die erste Ausgabe ihrer mittlerweile weltberühmten Kinder- und Hausmärchen veröffentlichten – darunter auch das Märchen von mir.

Sie waren also schon zuvor den Menschen bekannt?

Oh ja! Bereits Jacob Grimm ging der Saga nach und war der Meinung, dass sich die Beschreibung der Frau Holle auf die germanische Göttin Holda, manchmal auch Hulda genannt, zurückführen lässt. Diese trägt dieselben Züge wie die nordische Göttin Freya, welche oftmals, aber fälschlicherweise, mit Frigga gleichgesetzt wurde. Deswegen stösst man bei der Suche nach meinem Ursprung auf die Namen Holda, Hulda, Perchta, Freya, Frigga oder auch Diana, die römische Göttin. Forschende gehen davon aus, dass ich bereits in der Jungsteinzeit im Rahmen des Kultes der Grossen Mutter verehrt wurde. Ich war gleichzeitig ausserdem die Erd- und Unterweltgöttin, verkörperte Fruchtbarkeit, war mit dem Handwerk und Ackerbau verbunden und beherrschte die Magie. Dazu gehörte auch das Beherrschen des Wetters, unter anderem das Berieseln von Saaten und Pflanzen mit Schnee, damit diese sich ausruhen und im neuen Jahr gut gedeihen. Aber man sprach auch von meinen Luftfahrten begleitet von Katzen, Kühen und einer Eule oder reichte mir hauptsächlich Speise-Opfer dar, damit ich das Wetter besänftige.

Dank den Brüdern Grimm und den Forschungen rund um meine Saga erinnern sich die Menschen auch heute noch an mich.

Möchten Sie das ausführen?

Die Menschen glaubten, dass ich mein unterirdisches Reich im Frühjahr aufschliesse und ich meine Begleiterinnen als Katzen in die Menschenwelt ziehen lasse. Im Herbst sammle ich wiederum die Seelen der im letzten Jahr verstorbenen Pflanzen, Tiere und Menschen in einem wilden Zug ein, um sie in die Unterwelt zu führen. Mit den Rauhnächten, welche mit der Wintersonnenwende beginnen und zwölf Nächte dauern, begann bei unseren germanischen Vorfahren die wilde Jagd. Dann sind die Tore zur Anderswelt weit geöffnet, sodass Götter und Göttinnen die Menschen besuchen können. Auch ich streifte mit meinen Begleiterinnen durch die Nächte und segnete die Erde, damit diese im neuen Jahr fruchtbar war. Die Menschen fürchteten die Zeit, räumten, ganz nach meinem Geschmack, Haus und Hof ordentlich auf und putzten alles. So stand in den Rauhnächten fast keine Arbeit an und man konnte sich erholen, sich auf sich selbst besinnen und Zeit miteinander verbringen. Doch heute wird in dieser Zeit nur noch vereinzelt an mich gedacht…

Was ist geschehen?

Die ersten Schriftquellen, in denen mein Name genannt wird, stammen aus der Zeit des Mittelalters. Der älteste Namensbeleg findet sich in den Schriften des Bischofs Burchard zu Worms anfangs des elften Jahrhunderts wieder. Darin werde ich als Dämonin in Frauengestalt beschrieben, die mit etlichen anderen Gleichgesinnten auf Tieren durch die Nacht reitet. Für die Kirche war ich eine Verbündete des Teufels und wurde nicht gern gesehen. Auch in anderen Schriftquellen des Mittelalters wird der Glaube an mich argwöhnisch beäugt und verurteilt. Mit der Verbreitung des Christentums wurde ich verdrängt, teilweise die Nennung meines Namens gar verboten. Heute sind die alten Bräuche während der Rauhnächte, oder wie ihr es nennt, der Weihnachtszeit, fast vergessen. Vieles hat sich verändert, doch Zeit füreinander nimmt man sich immer noch. Das finde ich trotz allem etwas Schönes.

Sie sind aber keinesfalls in Vergessenheit geraten. Ein Naturpark in Deutschland wurde gar zum Frau Holle Land benannt. Was hat es damit auf sich?

Ja, dank den Brüdern Grimm und den Forschungen rund um meine Saga erinnern sich die Menschen auch heute noch an mich. Obwohl der Glaube an mich einige Zeit lang nicht gern gesehen war, hat die Saga überlebt, wenn auch in etwas abgeänderter Form. In Österreich, der Schweiz und Deutschland gab es viele Orte, die mir gewidmet waren. Besonders lange hielt sich die Tradition am Hohen Meissner, einem Bergplateau in Nordhessen. Dort wurde nun auch der Naturpark Frau Holle Land errichtet. Man erzählte sich, ich schenke Segen für Familie und Ernte, mache das Wetter und beherrsche die Elemente. Wenn es schneite, hiess es, ich schüttle meine Betten aus. Wenn um Weihnachten die Sonne leuchtend rot hinter dem Berg verschwand, meinten die Menschen, ich backe Plätzchen. Hier lässt sich also auch der Ursprung des Märchens verorten.

Sie leben also auf dem Hohen Meissner?

Nicht ganz. Wie schon erwähnt, lebte ich nach den Vorstellungen der vorchristlichen Zeit in der Anderswelt, im Jenseits. Geht man noch weiter zurück in die Jungsteinzeit mit dem Kult der Grossen Mutter, war ich gar die Mutter Erde selbst. Nach den jüngeren Erzählungen aber lebe ich sowohl auf meinem Berg als auch in meinem unterirdischen Garten Immergrün. Manchmal ziehe ich mich in Höhlen zurück und beobachte die Menschen. Der bekannteste Ort, der mit mir in Verbindung gebracht wird, ist aber der Frau-Holle-Teich. Dieser ist der Eingang zu meinem unterirdischen Reich sowie der Ort, an dem die Seelen sich kurz vor der Wiedergeburt aufhalten. Hier wurden ausserdem Goldfunde aus dem ersten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung gemacht oder gar Feuersteingeräte aus der Steinzeit entdeckt. Das ist wiederum ein Indiz dafür, dass ich schon viel länger existiere, als manche annehmen.

Goldmarie und Frau Holle. Holzstich von 1873 nach einer Zeichnung von Carl von Binzer (Deutschland, 1824-1902).

Goldmarie und Frau Holle. Holzstich von 1873 nach einer Zeichnung von Carl von Binzer (Deutschland, 1824-1902).

Sie sagten, Sie beobachten die Menschen. Kann es sein, dass Sie auch schon gesehen wurden?

Ja, manchmal offenbare ich mich den Menschen. Dabei nehme ich unterschiedliche Gestalten an. Ich erscheine als eine weisse Frau, als altes und hilfsbedürftiges Mütterchen oder gar in meiner ganzen Macht und Pracht. Ich stelle die Menschen auf die Probe, beschenke oder bestrafe sie. Dabei bin ich aber nicht böswillig. Alle haben die Chance, sich und ihr gutes Wesen zu beweisen. Nur wer meinem Wort nicht folgt oder aus den falschen Gründen handelt, wird bestraft. Sie wissen ja, was mit der Pechmarie geschehen ist. Auch sie hätte jederzeit ihre Einstellung ändern und das Pech loswerden können, doch sie kam bislang nie auf den richtigen Weg.

Wie lebt es sich in Ihrer Welt?

Ich lebe im Überfluss. Trotzdem ist mir Bescheidenheit sehr wichtig. Auch wenn es genug von allem gibt, soll man schätzen, was die Natur einem bietet. Die Wiesen sind voller schöner Blumen, die Bäume voller reifer Früchte. Es gibt genügend Getreide, um Brote zu backen. Die Natur schenkt uns all dies. Einige Menschen glauben, ich lebe in einem silbernen Schloss. Laut dem Märchen lebe ich in einem einfachen Haus. Beides ist mir möglich. Was aber in jedem Fall anfällt, ist eine Menge Arbeit. Ich könnte gut Hilfe gebrauchen, doch ich bekomme nur noch selten Besuch.

Im Einklang mit sich selbst und im weitesten Sinne auch mit der Natur zu sein, das ist die Einstellung, die ich belohnen möchte.

Wie gelangt man denn zu Ihnen?

Zentral, um ins Jenseits zu gelangen, ist das Element Wasser. Der Saga nach ist beispielsweise der Frau-Holle-Teich ein Tor zu meinem Reich. Auch Goldmarie ist übers Wasser zu mir gekommen, nämlich durch einen Brunnen. In der alten germanischen Mythologie ist Mimirs Brunnen der Ort, an dem die Nornen den Schicksalsfaden der Menschen spinnen. Im Märchen ist er aber der Weg ins Jenseits. So sind schon Goldmarie und ihr folgend auch Pechmarie zu mir gelangt.

Im Märchen werden Sie als strenge Richterin beschrieben. Wie entscheiden Sie, welche Menschen belohnt und welche bestraft werden sollen?

Das Märchen wurde in der Biedermeierzeit niedergeschrieben. Damals hatten die jungen Frauen zwei Möglichkeiten: Entweder sie heirateten einen Mann und unterhielten einen eigenen Haushalt oder sie halfen in einem fremden Haushalt als Dienstmädchen oder Erzieherin. Es existierten klare gesellschaftliche Vorstellungen davon, wie eine Frau zu sein hatte. Diese widerspiegeln sich auch im Märchen, welches als eine Art Leitfaden für die sittsame Frau gesehen werden kann. Entsprechend hatte eine Frau tugendhaft und fleissig zu sein. Für mich ist aber viel wichtiger, dass die Menschen in einer Verbindung mit ihrem inneren Selbst stehen. Wer sich nur auf Materielles wie Gold fokussiert, wird von mir nicht belohnt. Man soll fähig sein, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Im Einklang mit sich selbst und im weitesten Sinne auch mit der Natur zu sein, das ist die Einstellung, die ich belohnen möchte.

Was halten Sie selbst vom Märchen?

Es gibt verschiedene Interpretationen des Märchens, auf die ich hier gar nicht weiter eingehen möchte. Die Moral der Geschichte ist aber letztlich doch diese: Wer im Einklang mit den Gesetzen der Natur, die zugleich auch die meinen sind, das Richtige tut, die oder der wird ein gutes Leben haben. Und das ist doch eine schöne Botschaft, zugleich aber auch ein Auftrag.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit Annette Rath-Beckmann, Historikerin und Gründerin des Arbeits- und Forschungskreises zur Mythologie der Göttin Holle, entstanden: www.goettin-holle.de

2 Antworten zu “Frau Holle: Es war einmal vor langer Zeit…”

  1. Birgit Marthh sagt:

    Ich finde es gut, dass Sie einen vielseitigen und fundierten Artikel zu Frau Holle schreiben 👌

  2. Theresia Bachl sagt:

    Danke, für diese gute Idee, die alte Göttin Holle wieder mit ihren vielen Aspekten vorzustellen.
    Ich finde dieses alte Wissen so wichtig und so tröstlich und so reich.In seiner zig tausenden von Jahren alten Tradition ist es frisch und voller tiefer Weisheit.

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19.01.2022
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