Interview von Lisa Allemann

Evelyne Binsack: «Klettern ist keine Sportart, sondern eine Lebensschulung»

Evelyne Binsack ist vieles: Diplom-Bergführerin, Helikopterpilotin, Extrem-Bergsteigerin, Bestseller-Autorin  und Referentin. Allen voran aber ist sie Grenzgängerin und Abenteurerin aus Leidenschaft. Als erste Schweizerin hat sie den Mount Everest bestiegen. Es folgten eine Expedition zum  Süd- und eine zum Nordpol, womit sie eine der wenigen Menschen ist, die auf allen drei geographischen Polen der Erde waren.

Evelyne Binsack ist vieles: Diplom-Bergführerin, Helikopterpilotin, Extrem-Bergsteigerin, Bestseller-Autorin  und Referentin. Allen voran aber ist sie Grenzgängerin und Abenteurerin aus Leidenschaft. Als erste Schweizerin hat sie den Mount Everest bestiegen. Es folgten eine Expedition zum  Süd- und eine zum Nordpol, womit sie eine der wenigen Menschen ist, die auf allen drei geographischen Polen der Erde waren.

Evelyne Binsack, im Jahr 1991 absolvierten Sie als eine der ersten Frauen Europas die Ausbildung zur diplomierten Bergführerin. Wie schwer war es für Sie, sich in diesem männerdominierten Umfeld zu behaupten?

Ja, dieses Jahr feierte ich mein 30-Jahre-Jubiläum als patentierte, diplomierte Berufsbergführerin. Unglaublich! Als Frau in einem männerdominierten Umfeld tätig zu sein, wurde vonseiten der Männer oft als rivalistisch gesehen. Ich habe diesen Umstand aber nie als bedrohlich empfunden. Im Gegenteil, ich war dadurch zu 100 Prozent motiviert. Mich interessierte die Leistung und nicht die Geschlechterfrage.

Woher kommt Ihre Faszination für die Sportart des Bergsteigens?

Zuerst einmal ist Klettern für mich keine Sportart, sondern eine Lebensschulung. Woher meine Begeisterung dafür kommt, weiss ich nicht. Für mich war es immer zentral, ein in unserer Zivilisation naturnahes Leben zu führen und möglichst in Freiheit zu leben. Aber Leidenschaft kann man nicht erklären. Die Begeisterung für den Alpinismus hat mich in etwa so erfasst, wie die Liebe auf unerklärlicherweise einen Menschen trifft. Ich bin am Fusse des Pilatus im Kanton Nidwalden aufgewachsen. Der Berg hat mein Leben geprägt. Er war es auch, an dem ich meine ersten Kletterversuche unternahm.

Wie hat sich das Bergsteigen in den vergangenen Jahren verändert?

Das Bergsteigen hat eine Revolution erlebt. Das hat sein Gutes, bezüglich der neuen Ausrüstung. Das hat aber auch sein weniger Gutes, nämlich, dass viele unerfahrene Bergtourist:innen die Berge überschwemmen. Früher war der Alpinismus eine raue Sache: Man war im Gebirge, auf hohen Bergen, umgeben von harten Materialien wie Felsen oder Eis und jeglichem Wetter wie Schnee und Wind ausgesetzt. Heute existieren so gut abgesicherte Routen und Ausrüstungen, dass das Wetter eigentlich keine grosse Rolle mehr spielt. Es gibt Sportkletterrouten und Kletterhallen, um dafür zu trainieren. All diese Faktoren haben dazu geführt, dass ein ganz anderes Publikum angezogen wird. Klettern wurde fast schon zu einer Art Volkssport und ist mittlerweile sogar olympisch. Es hat sich also viel verändert.

Was halten Sie vom zunehmenden «Extremtourismus»? 

Der Tourismus hat sich generell in eine Richtung des zu viel entwickelt.  Das Erleben und die Liebe zur Natur wird sekundär. «I have done that», «I have been there» sind Slogans, die diese Entwicklung mit Worten beschreiben. Es geht um Konsum, um Selfies. Es wäre buchfüllend, zu erläutern, welchen Gefahren sich unerfahrene Tourist:innen teilweise aussetzen. Ich empfehle den Menschen, die in die Berge gehen und Anfänger:innen sind, sich dringend eine:n Bergführer:in zu leisten.

Wie sieht Ihr Alltag als Bergführerin aus?

Im Sommer stehe ich um 02:00 Uhr auf, frühstücke, marschiere um 02:30 Uhr los, besteige einen 4000er und bin mittags wieder zurück auf der Hütte. Danach folgt der Abstieg ins Tal und die Nachhausefahrt oder der Aufbruch zur nächsten Hütte für den nächsten 4000er. Oft arbeite ich bis 18 Stunden am Tag und freue mich dann jeweils, wenn ich an einem freien Tag mal bis 06:00 Uhr morgens ausschlafen kann.

Welche Touren machen Sie am liebsten? 

Ich liebe die Abwechslung: Fels, Eis, Gletscher, 4000er, Klettertouren, Skitouren, Ausbildung – you name it.

Welche Jahreszeit eignet sich am besten zum Bergsteigen und weshalb? 

Ich selber bevorzuge all jene Monate zum Bergsteigen, die sich dazu aufgrund von Wetter, Kälte, Schnee und geschlossenen Hütten eigentlich nicht empfehlen. Dafür sind die Berge menschenleer, was für mich eine Freiheit ist, die ich sehr geniesse. Für Bergtourist:innen hingegen eigenen sich im Winter respektive Frühling die Monate Januar bis Mai mit unterschiedlichen Schwerpunkten von Tiefschnee-Skifahren bis Ski-Hochtouren und von Juli bis Mitte September für Hochtouren. Die Gründe für die Saison bieten, wie erwähnt, das Wetter, die Verhältnisse am Berg und die Infrastruktur der Hütten.

Evelyne Binsack

Sie sind der einzige Mensch, der den Südpol aus eigener Kraft, das heisst mit Velo, Ski und zu Fuss, erreicht hat. Aber auch bei Ihren Expeditionen auf den Mount Everest und an den Südpol war es Ihnen wichtig, alles aus eigenem Antrieb zu schaffen. Was macht diese Art und Weise des Weges für Sie aus?

Eine Expedition ist für mich immer sehr komplex. Von den Vorbereitungen über die Selbstfinanzierung hin zur Art der Anreise bis zur Durchführung und danach die Reflexion des Erlebten. Die meisten Menschen umgehen mindestens drei der fünf Phasen, weil es eher ein Abhaken eines Zieles ist und nicht eine Identifizierung mit diesem. Deswegen fühlen sie sich trotz einer erfolgreich absolvierten Expedition innerlich leer und eilen und irren von einem Ziel zum nächsten.

Sie bezeichnen sich selbst als Grenzgängerin. Wie wissen Sie, welche Grenzen Sie nicht überschreiten sollten?

Die Grenze liegt da, wo es mit Gewissheit nicht mehr weitergeht. Jeder Mensch spürt grundsätzlich diese unsichtbare, aber deutliche Linie. Ich habe gelegentlich mit Ausrüstern auf explizite Ziele hin zusammengearbeitet, nie aber mit Sponsoren. Die Entscheidung, all meine Expeditionen selbst zu finanzieren, war eine bewusste. Denn mit Sponsoren entsteht ein von aussen wirkender, zusätzlicher Druck, weil sie eine bestimmte sportliche Leistung erwarten. Natürlich zwingen sie niemanden, Grenzen zu ignorieren. Bei der Entscheidung, eine Expedition abzubrechen, spielt es aber durchaus eine Rolle, ob im Hinterkopf noch der Gedanke mitläuft, nicht nur sich selbst, sondern auch die Sponsoren zu enttäuschen. Als eigen:e Geldgeber:in ist man niemandem Rechenschaft schuldig. Eine auf diese Weise neutrale Entscheidungsfreiheit zu haben, war mir immer wichtig.

Was haben Sie auf Ihren Expeditionen über das Leben gelernt, das Sie nun in Ihren Referaten und Workshops weitergeben?

Mit meinen Referaten teile ich meine Erfahrungen mit Personen in Führungspositionen oder Menschen, die ihre Aufgaben unter grossem Druck wahrnehmen und helfe ihnen, ihre Ressource Willenskraft besser zu steuern. Zuhörer:innen lernen, die Mechanismen zwischen der Motivation und der Willenskraft zu verstehen und kommen mit Tricks in Berührung, wie sie der Ego-Depletion, die schlimmstenfalls zu Burnout oder frühem Tod führen kann, entgehen können. Ausserdem kann ich vermitteln, unter welchen Voraussetzungen erfolgreiche Teams zusammenarbeiten und erklären, was Navigation mit einem erfolgreichen Leben zu tun hat. Mit «erfolgreich» meine ich dabei nicht materiell stark, sondern innere Zufriedenheit, Gelassenheit und Selbststärkung.

Sie gehören zu der Handvoll Menschen, die auf allen drei geographischen Polen waren – und sind damit ein Vorbild für viele Extremsportler:innen. Was würden Sie denjenigen raten, die das gleiche Ziel verfolgen? 

Ich würde ihnen raten, die Hände davon zu lassen, eine gescheite Ausbildung zu machen und in ihrer Freizeit Sport zu treiben, wenn sie das möchten. Die Welt hat sich in den letzten dreissig Jahren verändert. Und in den letzten Jahren ging diese Entwicklung radikal schnell. Ich bin der Gunst der frühen Geburt dankbar, dass die Orte, die heute von Tourist:innen überlaufen werden, früher noch Orte der Einsamkeit waren. Ich habe mich deswegen auch entschieden, mit den Expeditionen in diesem Stil aufzuhören. Ich will nicht Teil dieser Konsum-Community sein und kann mich damit nicht identifizieren.

Und zum Schluss: Wie verbringen Sie den Winter am liebsten?

Im Schnee!

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27.11.2021
von Lisa Allemann
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