Interview von SMA

«In der Welt der Zahlen existiert enorm viel Schönheit»

Maryna Viazovska, Inhaberin des Lehrstuhls für Arithmetik an der EPFL, hat kürzlich die Fields-Medaille erhalten. Diese gilt als höchste Auszeichnung ihres Fachs und wird auch als «Nobelpreis der Mathematik» bezeichnet. Wir sprachen mit Maryna Viazovska über ihre Leidenschaft für Zahlen, ihre Rolle als Forscherin und Mutter sowie über die schwierige Lage, in der sich derzeit alle Menschen aus der Ukraine befinden. 

Maryna Viazovska, Inhaberin des Lehrstuhls für Arithmetik an der EPFL, hat kürzlich die Fields-Medaille erhalten. Diese gilt als höchste Auszeichnung ihres Fachs und wird auch als «Nobelpreis der Mathematik» bezeichnet. Wir sprachen mit Maryna Viazovska über ihre Leidenschaft für Zahlen, ihre Rolle als Forscherin und Mutter sowie über die schwierige Lage, in der sich derzeit alle Menschen aus der Ukraine befinden. 

Maryna Viazovska, welche Bedeutung hat der Gewinn der Fields-Medaille für Sie?

Dass ich diese Auszeichnung erhalten habe, stellt eine grosse Ehre für mich dar. Die Medaille wird seit 1936 alle vier Jahre an Mathematikerinnen und Mathematiker im Alter unter 40 Jahren verliehen. Dementsprechend stolz bin ich auf die Tatsache, dass ich mich nun zu diesem ausgewählten Personenkreis zählen darf.

Sie haben Ihre Auszeichnung für ihre Arbeit über das Stapeln von Kugeln in den Dimensionen 8 und 24 erhalten. Damit konnten sie erstmals einen Beweis zu dieser Frage jenseits der drei Dimensionen erbringen. Können Sie das für uns bitte näher ausführen? 

Die Frage, wie man Kugeln so dicht wie möglich zusammenpacken kann, beschäftigt die Mathematik bereits seit mehr als vier Jahrhunderten. Der Legende nach geht die ursprüngliche Fragestellung auf die Schifffahrt zurück. Das Problem lautete, wie man möglichst viele Kanonenkugeln platzsparend auf oder unter Deck stapeln konnte. Johannes Kepler postulierte bereits im Jahr 1611 – jedoch ohne entsprechenden Beweis –, dass dies in einem dreidimensionalen Raum am besten in Form einer Pyramide gelingt. Man kann sich das wie eine Orangenpyramide im Supermarkt vorstellen. Seine Hypothese wurde schliesslich 1998 bewiesen. Ich habe dieses Verpackungsproblem nun in den Dimensionen 8 und 24 gelöst. Die Schwierigkeit bestand dabei vor allem darin, dass das Problem zwar das gleiche bleibt, aber jede Dimension anders ist und die optimale Lösung stark von der jeweiligen Dimension abhängt.

Und warum haben Sie für Ihre Beweisführung gerade die Dimensionen 8 und 24 gewählt?

Weil es sich dabei um spezielle Dimensionen handelt und die Lösungen des Problems darin besonders elegant ausfallen. Denn die Anordnung der Kugeln ist unter Verwendung des E8- bzw. Leech-Gitters bemerkenswert symmetrisch. Die Arbeiten der Mathematiker Henry Cohn und Noam Elkies zeigten schon vor mehr als zehn Jahren, dass diese Packungsweisen nahezu perfekt sind, und zwar bis auf ein Milliardstelprozent. Doch sie konnten es nicht endgültig beweisen. Mit meiner Arbeit konnte ich den endgültigen Nachweis für die Perfektion der Stapelung entlang dieser beiden Gitter nachweisen. Es ist manchmal für Nicht-Mathematikerinnen und -Mathematiker eher schwierig nachzuvollziehen, aber in der Welt der Zahlen existiert enorm viel Schönheit, Magie – und Geheimnisvolles. 

Wie haben Sie den Weg  in diesen Fachbereich gefunden?

Meine Geschichte dazu ist fast schon bemerkenswert langweilig: Ich hatte ganz einfach bereits während meiner Schulzeit enorme Freude an Mathematik. Meine Eltern waren zwar beide im Feld des Ingenieurwesens tätig, doch die Leidenschaft für Zahlen war bei mir deutlich stärker ausgeprägt. Diese Faszination zog sich dann wie ein roter Faden durch meinen weiteren akademischen Werdegang und führte mich schliesslich an die Universität von Kiew, wo ich mir meinen Master- sowie meinen Doktortitel erarbeitete. 

In naturwissenschaftlichen Bereichen und in der Welt der Mathematik sind Frauen eher untervertreten. Woran liegt das Ihres Erachtens? Und kommt Ihnen hier eine Vorbildfunktion zu?

Bis zu einem gewissen Grad nehme ich wahrscheinlich durch meine Arbeit eine Vorbildrolle ein. Mir geht es natürlich primär darum, in meinem Beruf meine bestmögliche Leistung zu erbringen und die beste Version meiner selbst zu sein. Ich erhalte aber auch immer wieder Einladungen für verschiedene Konferenzen und Veranstaltungen, die zum Ziel haben, Frauen und Mädchen für die Mathematik zu begeistern. Wenn es mir möglich ist, nehme ich gerne an diesen Events teil, denn ich erachte sie als eine gute und wichtige Sache. Wenn wir von den Gründen sprechen, die dazu führen, dass weibliche Talente in meinem Feld eher unterrepräsentiert sind, kann das mit vielen individuellen Faktoren zusammenhängen. Als Mutter von zwei Kindern – einem dreijährigen Mädchen und einem Teenager – weiss ich aus erster Hand, dass es für Frauen schwierig sein kann, eine akademische Karriere zu verfolgen. Für mich war und ist daher die Unterstützung meiner Familie und insbesondere meines Ehemannes enorm wichtig. Darüber hinaus haben wir das Glück, eine gute Kindertagesstätte in der Nähe zu haben. Solche persönlichen Strukturen sowie externe Einrichtungen spielen meiner Meinung nach eine wesentliche Rolle, um Frauen den Weg ins Berufs- und akademische Leben zu ebnen. 

Woran arbeiten Sie aktuell?

Mich beschäftigt derzeit das sogenannte «Sphere breaking problem». Dabei handelt es sich um ein sehr tiefgreifendes Thema, das einen grossen Teil meiner Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Vereinfacht gesagt, geht es um den Verfall von sphärischen Strukturen. Eine Frage lautet dabei etwa, wie sich dieser Prozess in besonders grossen Dimensionen vollzieht. Weil die Problemstellung so komplex ist, erzielt man nur langsam Fortschritte, was eine gewisse Ausdauer – und Frustrationsresistenz – voraussetzt. Aber auch das ist natürlich Teil des Jobs.  

Mathematische Forschung ist fast immer Grundlagenforschung. Welche realen Nutzungsmöglichkeiten existiert für Ihre Arbeit – oder könnten dereinst existieren?

Die mathematischen Prinzipien, mit denen ich mich bei meiner Arbeit auseinandersetze, finden bereits breite Anwendung, etwa im Bereich der Coding-Theorie. Es gibt gewisse Videoformate, welche eine besondere Version der «Kugelpackung» verwenden, um Daten zu transportieren. Es wird dementsprechend spannend sein, zu sehen, wie sich dieser Ansatz in Zukunft weiterentwickeln wird. 

Wie erleben Sie als in der Schweiz lebende Ukrainerin den Konflikt in Ihrem Heimatland? 

Es handelt sich bei diesem Krieg um eine furchtbare Tragödie und ich bin sehr nahe an den Geschehnissen in der Ukraine dran – dies nicht nur aufgrund der offiziellen Informationen, sondern auch dank Menschen vor Ort, die ich kenne. Die weltweite ukrainische Community ist sehr aktiv und auch am EPFL erlebe ich Zusammenhalt, Solidarität und Anteilnahme, vor allem durch die Studentinnen und Studenten. Zum Beispiel haben wir den Ukraine-Cooking-Day ins Leben gerufen, dessen Ziel darin besteht, Geld für wohltätige Organisation zu sammeln, die im Krisengebiet Hilfe erbringen. Wir werden weiterhin den Support von Europa und der Welt benötigen – denn was derzeit geschieht, ist nicht nur eine Gefahr für mein Land, sondern für uns alle. Darum hoffe ich, dass wir gemeinsam die zu erwartenden Unannehmlichkeiten erdulden werden. 

Headerbild EPFL/Fred Merz

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19.10.2022
von SMA
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