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Die Tage der Work-Life-Balance sind gezählt

30.04.2022
von Kevin Meier

Das Konzept der Work-Life-Balance ist mittlerweile kaum noch aus der Arbeitswelt wegzudenken. Gemeint wird damit gemeinhin, dass eine Balance zwischen dem Arbeits- und dem Privatleben herrschen sollte, der Gesundheit zuliebe. Doch ist diese Sicht noch zeitgemäss?

Die englische Wortzusammensetzung Work-Life-Balance ist den allermeisten Menschen ein Begriff, ist sie doch seit rund 30 Jahren Zentrum internationaler Diskussionen. Im deutschen Sprachraum wird der Ausdruck oftmals synonym für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verwendet. Die konzeptuelle Trennung von Arbeit und dem restlichen Leben reicht bis zu den Anfängen der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Erste Verwendung fand der Ausdruck «Work-Life-Balance» in den 1970er-Jahren in Grossbritannien und bezog sich auf berufstätige Mütter. Seit den 1980er-Jahren verliert das Wort zunehmend den geschlechterspezifischen Aspekt, der sich nun in Richtung längerer Arbeitszeiten verschiebt. 

Mehrdeutige Bezeichnung

Bei der Work-Life-Balance rücken je nach Partei unterschiedliche Nebenbedeutungen und Konnotationen in den Vordergrund. Im Allgemeinen kann sie als Ausdruck eines gesellschaftssozialen Modells angesehen werden. Für Unternehmen ist sie darüber hinaus auch ein Instrument, die Produktivität sowie die Arbeitgeberattraktivität zu steigern, die Mitarbeitermotivation zu stärken und die Arbeitsdauer zu verlängern. Derweil hoffen Arbeitnehmende dadurch auf eine Erhöhung der Arbeits- und Lebensqualität, Stressminderung und eine Steigerung des Wohlbefindens. Die beiden Gruppen arbeiten schlussendlich doch auf dasselbe Ziel hin: eine ganzheitliche Lebensgestaltung.

Klare Trennung kaum möglich

Work-Life-Balance und Vereinbarkeit von Familie und Beruf suggerieren über die Wortbedeutung hinaus, dass berufliche und Tätigkeiten in der Freizeit zwei strikt getrennte Bereiche sind. Die Realität sieht aus mehreren Gründen anders aus. Zum einen beinhaltet «Life» einiges mehr als einfach nur das Leben.

Ein Gleichgewicht zwischen den beiden Dimensionen zu erreichen, scheint aussichtslos.

Neben Familie und Freundeskreis gehören ebenso Hobbys, Spiritualität, Sport, aber auch Behördengänge, Arztbesuche und weitere Verpflichtungen dazu. Zum anderen gibt es Dinge, die sich nicht nahtlos einfügen lassen. Unbezahlte Care-Arbeit, also beispielsweise die Kindererziehung oder familiäre Altenpflege, kann je nach Einzelfall und Perspektive dem Arbeits- oder Privatleben zugeordnet werden. Ein Gleichgewicht zwischen den beiden Dimensionen zu erreichen, scheint aussichtslos.

Work-Life-Balance, Unbezahlte Care ArbeitDie Digitalisierung bringt überdies eine erhöhte oder gar ständige Erreichbarkeit mit sich, was eine scharfe Trennung zusätzlich erschwert. Einige Unternehmen in Deutschland sind mittlerweile dazu übergegangen, ihre Mitarbeitenden von diesem Druck zu erlösen und erwarten keine Antwort ausserhalb der Arbeitszeiten. Frankreich kennt seit 2017 ein Gesetz, das den Arbeitnehmenden ein Recht auf Abschalten nach Feierabend zugesteht – bisher blieb dieses jedoch unverbindlich. Ähnliche politische Bestrebungen wurden in der Schweiz sowohl vom Bundesrat als auch vom Nationalrat abgelehnt.

Integration, Blending und Life Domains 

Wie das Leben dahingehend gestaltet wird, bleibt eine Sache zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden. Und so werden das Konzept, dessen Benennung und Bedeutung immer kritischer diskutiert. Viele nehmen das Wort «Work-Life-Balance» als altmodisch und realitätsfremd wahr. Denn durch die zunehmende Vermischung von Arbeits- und Privatleben verfehlt der Begriff den Kern der mehrseitigen Bedürfnisse. Einige empfehlen deshalb die Benennung «Work-Life-Integration» oder «Work-Life-Blending». Diese leicht modifizierten Konzepte erkennen den Fakt an, dass eine Balance immer etwas Temporäres darstellt, weshalb eine veränderliche Vermischung von Beruf und Leben realisierbarer sein soll.

Eine weitere Wandlung erfährt das Konzept mit der Referenz auf Life Domains. Anstelle davon, die Gesamtheit des Lebens in Arbeit und den Rest einzuteilen, wird miteinbezogen, dass Pflichten und Wünsche nicht nur vielfältig, sondern genauso beweglich sind – und vor allem, dass berufliche Tätigkeiten nicht die Hälfte davon ausmachen. Phasenweise erhalten bestimmte Bereiche mehr Gewicht, während andere für eine Weile zurücktreten. «Life Domains Balance» beinhaltet zwar das schwierige Gleichgewicht, würdigt aber die Wandlungsfähigkeit des Lebens. Ziel bleibt, die Aspekte in Einklang zu bringen, auch wenn diese Harmonie nicht immer gleich aussieht.

Hohe Erwartungen

Das Konzept und all seine Variationen haben eines gemein: Die Einhaltung ist alles andere als simpel, aber von höchster Wichtigkeit für die psychische und physische Gesundheit. Einerseits erfordert es ein verbindliches Engagement aufseiten der Arbeitgeber mit zielführenden Massnahmen. Andererseits müssen sich Arbeitnehmende der eigenen Bedürfnisse und Pflichten sowie deren aktuellen Prioritäten gewahr sein. Diese Art von vorausschauender Introspektion bedarf Übung und konstanter Praktik.

Denn gesundheitliche Anzeichen wie Dünnhäutigkeit und schlechter Schlaf sind bereits späte Warnsignale. Schon zuvor muss man sich aktiv hinterfragen und achtsam sein. Dadurch kann man im jeweiligen Bereich präsent sein und Prioritäten, Grenzen und Ziele angemessen setzen. Um sich vor Überforderung zu schützen, muss man die Gefühlslage sodann frühzeitig beim Arbeitgeber zur Sprache bringen. Zumal andere Parteien ohne Kommunikation keine passenden Massnahmen ergreifen können.

Text Kevin Meier

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