Der Fachkräftemangel könnte durch drei Millionen Menschen, die zur »Stillen Reserve« gerechnet werden, deutlich abgemildert werden. Was müssen Unternehmen tun, um diese teilweise bestens ausgebildeten Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu locken?
Ende Januar bezifferte das Statistische Bundesamt die Zahl der Nichterwerbspersonen mit Arbeitswunsch auf 3,1 Millionen. Bei dieser sogenannten »Stillen Reserve« handelt es sich um teilweise bestens ausgebildete Fachkräfte, die dem Arbeitsmarkt aus verschiedenen Gründen nicht zur Verfügung stehen und nicht als erwerbslos gelten. Die Herausforderung: Diese Menschen, von denen 60 Prozent ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau aufweisen, würden gerne arbeiten, werden aber aufgrund eines umfassenden Verständnis- und Verständigungsproblems, so muss man es wohl sagen, von mittel- oder längerfristigen Arbeitsbindungen abgehalten.
543 000 Hochqualifizierte ohne passende Tätigkeit
Das Bundesamt unterscheidet bei der »Stillen Reserve« drei Gruppen. »Zur ersten Gruppe gehören Personen, die zum Beispiel aufgrund von Betreuungspflichten kurzfristig keine Arbeit aufnehmen können. Personen der zweiten Gruppe würden gerne arbeiten und wären auch verfügbar, suchen aber aktuell keine Arbeit, weil sie zum Beispiel glauben, keine passende Tätigkeit finden zu können. Die dritte Gruppe ist die arbeitsmarktfernste. Sie umfasst Nichterwerbspersonen, die zwar weder eine Arbeit suchen noch kurzfristig verfügbar sind, aber dennoch einen generellen Arbeitswunsch äußern.« Baff macht allein schon die Mengenverteilung: Denn während die ersten beiden Gruppen zusammen 1,4 Millionen Personen zählen, besteht allein die letzte Gruppe aus sage und schreibe 1,8 Millionen.
Dass Unternehmen Familienangehörige mittlerweile besser verstehen als der Staat oder die von ihr betriebene Arbeitsagentur, die mit der »Stillen Reserve« nichts am Hut hat oder haben will, sollte zu denken geben.
Offenbar werden also fast zwei Millionen Menschen überhaupt nicht mehr durch Unternehmen und deren Arbeitsangebote erreicht. Darunter sind zwar auch sehr junge Schulabgänger und Menschen im Rentenalter, aber eben auch gut und bestens ausgebildete Fachkräfte in mittleren Jahren. 59,9 Prozent dieser dritten Gruppe sind Frauen. Und 15,8 Prozent dieser dritten Gruppe, also 284 000, zählen zu den Hochqualifizierten. Nimmt man die hoch qualifizierten Personen der ersten beiden Gruppen dazu, die das Bundesamt mit 18,5 Prozent, also 259 000, beziffert, kommt man auf 543 000 hoch qualifizierte Menschen, die sicherlich schnell Arbeit finden könnten, aber dies aus diversen Gründen, von Care-Arbeit bis zu weiterhin unzureichenden Teilzeit-Angeboten oder fehlender Ermutigung, nicht wollen.
Wo Geld und Teamspirit nicht greifen
Trotz rund um die Uhr anklingelnder Postings und E-Mails dringen etliche Stellenanzeigen nicht zu potenziellen Interessent:innen durch. Auch scheinen etliche Stellenbeschreibungen immer noch zu speziell, um sich selbst als »Match« zu begreifen und zu melden. Man muss vielleicht auch so fragen: Schreckt die Idee des Zusammen-Arbeitens, das überall propagierte Teamwork, bestimmte Menschen ab, die über gewisse finanzielle Polster verfügen und sich in einer Home-Living-Blase eingerichtet haben und die eher aus dem Zwischenmenschlichen bekannte Bindungsangst nun in den Beruf verlagert oder verlängert haben? Weiterhin gelingt es offenbar auch nicht, berufliche Tätigkeiten als familienkompatibel anzusehen. Es ist schon ein bisschen verrückt: Einerseits hat eine Harvard-Langzeitstudie schon lange vor der Coronapandemie die persönlichen Beziehungen und Bindungen zwischen Menschen als glücksstiftend benannt. Andererseits soll die Loslösung oder Weitergabe von persönlicher Betreuung weiterhin die Voraussetzung für eine erfolgreiche Berufstätigkeit sein.
Zwischen Ersatzfamilie und Servicecenter
Unternehmen antworten auf diesen Spagat unterschiedlich. Die einen wollen die Arbeit selbst zur Ersatzfamilie umbauen. Immer mehr Events und Feierabendtreffen sollen die Arbeit angeblich locker und damit doch umso bindender gestalten. Auf der anderen Seite sehen Unternehmen gerade eine »Family Time«, warum nicht auch »Friendship Time«, als Voraussetzung für ein glückliches Arbeiten an. Niemals abschalten? Das kann nicht der Schlüssel sein, um für ein Unternehmen längerfristig zufrieden tätig zu werden.
Dass Unternehmen Familienangehörige mittlerweile besser verstehen als der Staat oder die von ihr betriebene Arbeitsagentur, die mit der »Stillen Reserve« nichts am Hut hat oder haben will, sollte zu denken geben. Tatsächlich wird eine Reaktivierung der »Stillen Reserve« derzeit nur der Privatwirtschaft gelingen. Längst preschen erste Personalabteilungen damit vor, Löhne auch für Teilzeitkräfte deutlich zu erhöhen oder mehr Homeoffice zu ermöglichen. Dass auf der anderen Seite Betreuungsangebote immer komplizierter werden und der Bürokratieabbau nicht voranschreitet, wirft allerdings selbst den umsichtigen Unternehmen Steine in den Weg.
Es kann durchaus sein, dass Personaler:innen demnächst neben eigenen Gesundheitsabteilungen auch Ämter-Dienstleistungen anbieten, um die Köpfe und Herzen ihrer Mitarbeitenden freizubekommen. Vielleicht ist das der Schlüssel, um ein paar Stille doch noch aus der Reserve zu locken.
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