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Recht

Zwei Rechtssysteme im Vergleich

04.11.2021
von SMA

Dass angelsächsische Staaten ein anderes Rechtssystem als Kontinentaleuropa etabliert haben, ist hinlänglich bekannt. Darüber hinaus erscheint aus Schweizer Sicht die Mentalität bezüglich Recht und Gerechtigkeit in Ländern wie den Vereinigten Staaten zuweilen andersartig. Sind diese Eindrücke Momentaufnahmen oder verbirgt sich mehr dahinter?

In der Geschichte der Menschheit hat sich eine Vielzahl an Rechtsordnungen gebildet, die sich noch heute je nach Nation unterscheiden und gegenseitigen Einfluss ausüben. Auf die westlichen Länder bezogen können vereinfacht zwei Rechtssysteme unterschieden werden: das Civil Law und das Common Law. Die Schweiz gehört der ersteren Rechtstradition an. Im Grundsatz stützt sich das Recht im Civil Law vornehmlich auf geschriebene Gesetze. «Die Argumentation präsentiert sich wie eine Deduktion. Es werden Normen auf Fälle angewendet», erklärt Odile Ammann, Rechtsprofessorin an der Universität Lausanne. Eine weitere Dimension wird von der Wirtschaftsanwältin Dr. Anne-Catherine Hahn angefügt: «Regulierungen, die dem Schutz der Allgemeinheit dienen, werden primär durch staatliche Behörden und nur ergänzend von privaten Akteuren durchgesetzt.»

Common Law und sein Einfluss auf die Schweiz

In den USA hingegen herrscht das Common-Law-System vor. In dieser Rechtsordnung bezieht sich das Recht primär auf einen Korpus ungeschriebener Gesetze basierend auf Präzedenzfällen (Case Law). In anderen Worten heisst das, dass in den Vereinigten Staaten laut Ammann eine «fallbasierte Argumentation» vorherrscht. Ganz allgemein führt das Common Law zu einer Verschiebung, wer im Zentrum einer Verhandlung steht, wie Ammann erklärt: «Die Parteien erhalten viel Raum, um ihre Rügen geltend zu machen und stehen aus prozessualer Sicht oft im Zentrum, während in der Schweiz ganz klar die Richter:innen das Verfahren leiten.» Schädliche Verhaltensweisen, die viele Personen berühren, «führen in den USA oft zu Zivilverfahren im Namen ganzer Gruppen», wie Hahn ergänzend ausführt.

Solche Sammelklagen existieren in der Schweiz bisher nicht, was jedoch mit dem VW-Abgasskandal aus dem Jahr 2015 zur Diskussion kam. Ein amerikanischer Einfluss auf das Schweizer Rechtssystem kann aber auch an anderen Stellen beobachtet werden. «Die Schweiz und die USA werden traditionell als ‹Sister Republics› bezeichnet. Die Geschichte belegt, dass es mehrere gegenseitige Beeinflussungen gegeben hat. Die Gliedstaaten wurden durch die schweizerischen Instrumente der direkten Demokratie beeinflusst, während die Schweiz beispielsweise die Zweikammerstruktur des US-amerikanischen Kongresses übernommen hat», erläutert Ammann. Aber auch die Praxis internationaler Schiedsgerichte mit Sitz in der Schweiz ist von ausländischen Rechtssystemen beeinflusst. Hahn erklärt: «Auch in der Schiedsgerichtsbarkeit gibt es punktuelle Einflüsse des amerikanischen oder englischen Systems, zum Beispiel indem Zeugenbeweisen mehr Raum gegeben wird als vor staatlichen Gerichten in der Schweiz.»

In den USA werden Schadenersatzklagen als Instrument der Sanktionierung von unerwünschtem Verhalten gesehen. Dr. Anne-Catherine Hahn

Schadensersatz als Sanktionierung

Laut Ammann können in den USA je nach Fallkonstellation und Rechtsgebiet sehr hohe Schadenersatzbeträge zugesprochen werden. Auch Hahn sagt: «In den USA werden Schadenersatzklagen als Instrument der Sanktionierung von unerwünschtem Verhalten gesehen.» Solch grosse, publikumswirksame Verfahren kennt die Schweiz in der Regel nicht. Das hat einerseits mit der Kultur zu tun, andererseits auch mit den prozessualen Rahmenbedingungen.

So sind in den USA Erfolgshonorare für Anwält:innen zugelassen und das Kostenrisiko der Kläger:innen im Vergleich eher geringer. «Weitere, ganz grundsätzliche Unterschiede betreffen das bei uns nicht existierende Jurysystem. Zusätzliche Beispiele gibt es etwa im Bereich der Grundrechte: So variiert etwa das Verständnis der Meinungsäusserungsfreiheit der USA stark von jenem, welches wir in der Schweiz kennen», führt Ammann aus. Je nach Rechtsgebiet und Lagerung der Fälle ergeben sich weitere Unterschiede zwischen der Schweiz und den USA. Neben dem Rechtssystem unterscheidet sich aber auch das Sozialsystem der Amerikaner:innen deutlich vom Schweizerischen. Diese Rahmenbedingungen haben erheblich zur Entwicklung dessen beigetragen, was wir als deutliche Differenzen der Mentalitäten wahrnehmen.

In den USA geht man stärker von einem retributiven Gerechtigkeitsverständnis aus. Associate Professor Odile Ammann

Gerechtigkeit

Unterschiede lassen sich auch im Gerechtigkeitsverständnis erkennen. «In den USA geht man stärker von einem retributiven Gerechtigkeitsverständnis aus. Auch haben sich die USA noch nicht von der Todesstrafe verabschiedet, die ein anderes Gerechtigkeitsverständnis als das unsere widerspiegelt», so Ammann. Aus Hahns Sicht unterscheiden sich vor allem die Instrumente, mit denen Gerechtigkeit erreicht werden soll: «In Europa wird relativ viel und detailliert präventiv reguliert, die soziale Absicherung ist tief verankert und generell kommt dem Staat eine wichtige Rolle zu. In den USA gilt traditionell hingegen eher ein ‹Laissez faire›-Gedanke; es wird vielleicht weniger reguliert, aber wenn es zu Fehlverhalten kommt, werden oft Sanktionen auferlegt, die über den konkreten Fall hinaus eine abschreckende Wirkung entfalten sollen.» Gerade wegen dieser Wirkung und der oft politisierten öffentlichen Diskussion werden Verfahren in den USA auch «als Mittel zur Lenkung unternehmerischen Verhaltens gesehen», wie Hahn es nennt. Infolgedessen kommt es oft zu einer offensiven und emotionalisierten medialen Berichterstattung, in derer Konsequenz auch von einem «Court of Public Opinion» gesprochen wird.

Auch wenn die beiden Rechtssysteme deutliche Unterschiede aufweisen, lässt sich eine gegenseitige Beeinflussung beobachten. Unter Berücksichtigung des weltweiten amerikanischen Einflusses wird es wohl vor allem für international tätige Schweizer Unternehmen zunehmend wichtig, sich mit den Eigenheiten des amerikanischen Rechtssystems zu befassen.

Text Kevin Meier, Lisa Allemann 

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