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Business Editorial IT Recht

Paradigmenwechsel in Sachen Recht und Technologie

20.04.2022
von SMA

Die Rechtsbranche wird sich in den nächsten 20 Jahren stärker verändern als sie es in den letzten 200 Jahren getan hat. Dies proklamierte Legal Tech Vordenker Professor Richard Susskind bereits 2013. Heute, bald zehn Jahre später, fühlt es sich noch nicht so an. Doch der Eindruck täuscht.

Ioannis Martinis,
Head of Legal Tech Coop Rechtsschutz AG

Die Digitalisierung der Jurisprudenz hat an Fahrt aufgenommen. Zwar mit weniger Appetit auf Disruption als sich dies progressive Juristinnen und Juristen vielleicht wünschen würden, aber doch mit spürbarem Geschwindigkeitszuwachs. In der Schweiz sind es vor allem die Unternehmensrechtsdienste, welche bei der digitalen Transformation voranschreiten.

Gemäss Swiss Legal Benchmarking Report 2021 von KPMG verfügt fast die Hälfte aller befragten Unternehmen über Spezialistinnen und Spezialisten in den Bereichen Digitalisierung und Legal Tech; international ist es im Schnitt nur ein Drittel. Überdurchschnittlich investiert wird in der Schweiz aber nicht nur in Technologie, sondern auch in entsprechendes Fachpersonal. Im Wissen darum, dass mit dem Einkauf von Software noch nichts gewonnen ist. 

Seit der Erfindung des Zivilprozessrechts vor 4000 Jahren ist Recht ein «People Business».

Etwas mehr Zurückhaltung herrscht derweil bei den Schweizer Anwaltskanzleien. Hier sind es vorrangig Grosskanzleien mit mehr als 50 Anwältinnen und Anwälten, die das Thema Legal Tech verfolgen und vorantreiben. Dies zeigt auch eine aktuelle Umfrage der Swiss LegalTech Association, welche gemeinsam mit dem schweizerischen Anwaltverbands durchgeführt wurde. Bei den kleinen Kanzleien mit zehn oder weniger Anwältinnen und Anwälten vertraten lediglich 28 Prozent der Befragten die Meinung, dass Technologie den Rechtsmarkt signifikant verändern wird. 

Dass Legal Tech mit Skepsis begegnet wird, überrascht nicht. Seit der Erfindung des Zivilprozessrechts vor 4000 Jahren ist Recht ein «People Business». Gleichwohl sind es heute die Klientinnen und Klienten, welche nicht mehr wollen, dass in der Rechtsbranche so gearbeitet wird, wie im letzten Jahrhundert. «Client Pressure» identifizierte auch die britische Law Society in ihrer Studie von 2019 als wichtigsten Treiber der Legal Tech Adaption.

Die Vorteile, welche Technologie mittlerweile bietet, sollen schliesslich auch den Mandanten zugutekommen. Insbesondere Unternehmenskunden sind sich dieser Vorteile bewusst und erwarten von den Kanzleien ein intelligentes Ressourcenmanagement – nicht nur, aber sehr wohl auch mittels zeitgemässen, technologischen Lösungen, die der Markt heute bietet. 

Der Einsatz von Technologie ist in der Rechtsbranche indessen nichts Neues. Doch anders als heute, hat sie bisher nie den Kernbereich der juristischen Tätigkeit tangiert. Lernfähige Algorithmen gepaart mit der (übermenschlichen) Informationsverarbeitungsfähigkeit von Maschinen werden nun zum «Game Changer».

Heute kann Software grosse Datensätze in Sekundenbruchteilen analysieren, juristische Argumente extrahieren, eine Sachverhaltsanalyse erstellen und bisweilen den Ausgang von Verfahren prognostizieren. Evidenzbasiertes, logisches, juristisches Denken und Argumentieren – klassische Kernkompetenzen einer Juristin und eines Juristen. 

Ein Paradigmenwechsel in Sachen Recht und Technologie findet gerade statt, wenn auch noch nicht an breiter Front. Damit verschaffen sich diejenigen Kanzleien und Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil, die das Thema Legal Tech nicht ignorieren, sondern in ihre Prozesse aufnehmen und ihre Mitarbeitenden entsprechend ausbilden. Denn beim vorherrschenden Narrativ, das von Hype und Disruption geprägt ist, geht oft vergessen, dass Legal Tech auch das Element des «Enabling» in sich birgt:

Der Befähigung, juristische Arbeit auf eine Art und Weise auszuführen, wie es bis anhin noch nicht möglich war. Zum Vorteil der Kanzlei, aber letztlich auch zum Vorteil der Kundinnen und Kunden. Damit das gelingt, braucht es bei der Anwaltschaft ein besseres Verständnis für das Potenzial von Technologie und den Willen, neue Denkräume zu erschliessen. 

Text Ioannis Martinis
Head of Legal Tech Coop Rechtsschutz AG
sowie Studiengangsleiter des CAS Legal Tech an der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ) 

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