Dragqueens sind seit jeher ein wichtiger Bestandteil der LGBTQ-Community. Mit voller Absicht sind sie anziehend, polarisierend, zuweilen gar abstossend. Doch wie erlebt eine Queen selbst die Community und ihre Kunst? Im Interview plaudert Visual Artist und Dragqueen Milky Diamond aus dem Make-up-Täschchen.
Milky Diamond, wie würdest du dich selbst beschreiben?
Ich bin eine sehr kreative Person, die auch gerne aneckt. Ich mache genau das, was ich will: Menschen begeistern und vielleicht auch ein Vorbild sein. Ein positives Enfant terrible (schmunzelt).
Ist Milky Diamond eine Kunstfigur oder eben doch Ausdruck deiner selbst?
Sie ist eher Ausdruck meiner selbst. Meine schwarzblonden Haare trage ich auch im Alltag. In diesem Sinne spiele ich keine Rolle: Ich spreche auf der Bühne genauso wie jetzt. Onstage kann ich mir aber mehr leisten. Ich kann frecher sein und kokettieren, was man im Alltag nicht im gleichen Ausmass kann.
Wie würdest du Drag definieren? Was bedeutet es dir?
Drag ist eine Art, sich auszudrücken, ob auf einer Bühne, online oder offstage. Mir hat es geholfen, mich selbst zu finden: Wer ich als Person sein möchte, was ich erreichen will und auch was ich anderen Menschen weitergeben kann. Für mich ist es eine Freude, Emotionen in anderen zu wecken.
Drag ist nicht abhängig von Gender, Sexualität oder sonst was. Milky Diamond
Zur Definition würde ich sagen, alle können Drag machen. Es ist nicht abhängig von Gender, Sexualität oder sonst was. Es kann schön sein, es kann eklig sein oder befremdlich. Es ist nicht nur das eine, sondern es besteht aus unzähligen Facetten. Man kann sich bei denen bedienen, die man will, die einem etwas zurückgeben. Wie RuPaul gerne sinngemäss sagt, alle sind Dragqueens. Im Büro spielt man beispielsweise eine andere Rolle als im Privatleben.
Welche Rolle spielen das Gekünstelte und die Realität bei Drag?
Es gibt schon einige Dinge, die an mir künstlich sind (lacht). Alle überspitzten Dinge wirken unecht. Ich teile aber nicht die Ansicht, dass Drag nur eine Überspitzung darstellt oder sich sogar über Frauen lustig macht. Natürlich gibt es Shows und Dragqueens, die es gerne ins Lächerliche ziehen. Es kommt aber von einem gutherzigen Platz.
Als Beispiel kann ich die politische Debatte um die «Ehe für alle» nennen. Wenn man solche alltäglichen Themen überspitzt und mit Humor auf der Bühne darstellt – insbesondere die schlechten Gegenargumente –, bekommt es etwas Künstliches. Denkt man nach der Show aber weiter, wird es real. Man sieht, dass die Gegenargumente gar keine Witze waren.
Ist es eine soziale Kunstform?
Ich finde schon, ja. Es geht immer auch um das Publikum. Auf der Bühne suche ich mir gerne Leute für den ganzen Abend aus, denen ich dann in die Augen schaue, sie berühre oder auf die Bühne hole. Die emotionale Basis zum Publikum ist wichtig und ich geniesse diesen Austausch. So zieht man sie in die Show und kann ihnen mehr geben. Das liegt mir heute mehr am Herzen als früher.
Wie hat sich dein Drag verändert?
In den bald zehn Jahren habe ich eine Evolution durchgemacht. Es gab verschiedene Intervalle mit unterschiedlichen Versionen von mir. Zehn Jahre Drag mit 30 Jahren ist schon krass. Andere machen es seit drei Jahren und sind 34. Nicht, dass ich besser wäre. Ich habe einfach länger gebraucht, bis es gut war (lacht).
Vorurteile und seltsame Blicke habe ich eher in der Stadt angetroffen. Milky Diamond
Aufgewachsen bist du eher ländlich in Dierikon, LU. Wie hast du das erlebt?
Ich bin gut aufgewachsen. Während meiner Coiffeurlehre in Luzern galt ich einfach als das Dorforiginal. Es war schlichtweg ein Fakt. Man hat sich nicht über mich lächerlich gemacht oder beschimpft. Das war schön. Vorurteile und seltsame Blicke habe ich eher in der Stadt angetroffen. Erwarten würde man vielleicht das Gegenteil, aber so habe ich es erlebt. Trotzdem würde ich heute nicht mehr mit Pelz und überschminkten Lippen rausgehen. Wenn man jung ist, muss man sich ausleben. Mit der Zeit findet man heraus, was man mag und was nicht und kann darauf aufbauen.
Im Dorf war die Akzeptanz kein Problem. Wie sah es mit der Schule aus?
Natürlich gab es in der Schule Probleme. Bekanntlich können Kinder grausam sein. Ich denke aber kaum an diese Zeit zurück. Mit 15 fand ich heraus, wer ich als Mensch bin und was ich erreichen will. Die Schulzeit vor der Lehre erachte ich als beinahe inexistent. Warum sollte das Negative so im Vordergrund stehen? Es gibt viel Positives, das mir wichtig ist und auf das ich Wert lege.
Wie hast du Drag entdeckt?
Erst als das iPhone in die Schweiz kam, hat sich für mich die Welt des Internets eröffnet. Durch das Aufkommen von Social Media konnte ich in die Leben von anderen Menschen eintauchen, unter anderem auch von Dragqueens. Zu diesem Zeitpunkt habe ich mir keine Labels aufgedrückt. Das Wichtigste war mir nur, nicht wie eine Clownfigur zu wirken. Für lange Zeit habe ich mich auch in Drag einfach als Künstler gesehen. Die Leute scheinen es aber besser einordnen zu können, wenn man sich als Dragqueen bezeichnet. Hauptsache, ich werde ernst genommen für das, was ich tue.
Zur ersten Show kam es in Zürich. Mit 20 Jahren bin ich dorthin gezogen, um Kunst an der F+F zu studieren. Ich arbeitete auch im Heaven Club. Dort entwickelte sich das natürlich. Der Geschäftsführer Marco Uhlig meinte, ich müsse auf der Bühne stehen. So kam es, dass ich begann, mit ihm Shows und Moderationen zu machen. In diesem Zeitraum hörte ich auf, mich im Alltag weiblich zu kleiden. Ich bekam stärkeren Bartwuchs und man hat es mir nicht mehr abgenommen (lacht). Bis dahin hatte ich noch nie in der Männerabteilung eingekauft. Was ziehe ich als Mann an? Das war auch eine spannende Frage für mich. Ich konnte mich nochmals neu entdecken.
Du hast Labels angesprochen: Für junge Menschen können diese schwierig sein.
Es ist schwierig. Ich gehöre noch zur Generation, die nicht auf Labels achtet. Man ist so, wie man ist. Viele Leute legen aber nun Wert auf Labels. Selbst ich blicke da manchmal nicht mehr durch und ich bin erst 29! Ich respektiere es, wenn das jemand möchte oder braucht. Andere Generationen zuvor benötigten es eben nicht. Beispielsweise gibt es jetzt auch Neo-Pronomen, die anscheinend aus einem Witz entstanden, aber von vielen ernst genommen werden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass einige Labels ihre Persönlichkeit ausmachen. Das finde ich etwas schwach. Was bleibt dann am Ende noch, wenn nicht eine Leidenschaft, ein Talent oder ein Hobby einen als Menschen ausmacht? Aber es ist auf jeden Fall interessant zu beobachten und ich diskutiere dieses Thema in letzter Zeit häufig.
Man kann etwas nur schlecht finden, wenn man es ausprobiert hat. Milky Diamond
Ein wenig wie Drag. Es ist ernst, aber eben nicht zu sehr.
Klar. Es ist so wichtig, dass man sich selbst auch auf die Schippe nehmen kann. Gerade bei Shows wie einem Roast, in denen man andere beleidigt, muss der erste Witz gegen einen selber gerichtet sein. Viele vergessen, dass man zeigen soll, dass man Spass versteht und andere Paroli bieten dürfen. Die eigene Person muss auch mal die Pointe sein.
Wie nimmst du die Schweizer LGBTQ-Szene wahr?
Sie ist laut und hat immer etwas zu sagen. In der Queer Community passt man aufeinander auf, das ist sehr schön. Wir haben starke Menschen und Sprachrohre wie Florian Vock, die sich für queere Themen einsetzen. Diese müsste man mehr wertschätzen und sichtbarer machen.
Was ist die Botschaft, die du mit allen Menschen teilen möchtest?
Das Wichtigste ist, dass man das macht, was man möchte. Ich hoffe für alle, dass sie sich selbst finden können und nicht an Stereotypen festhalten, weil es die Gesellschaft vielleicht so will. Oft werde ich gefragt, wer Drag ausprobieren soll. Alle sollten es probieren! Dann weiss man, ob man es gut findet oder hasst. Das gilt für alles im Leben: Man kann etwas nur schlecht finden, wenn man es ausprobiert hat. Wer weiss, das Ausprobieren kann zu einer neuen Leidenschaft führen. Gerade den Jungen wünsche ich, dass sie den Geist freihalten und für alles offen sind.
Interview Kevin Meier
Bilder Tatjana Rüegsegger
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