Die Schweiz gilt als Musterbeispiel für Demokratie und Mitbestimmung. Doch damit wird eine unbequeme Wahrheit verschleiert: Rund 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen ringen hierzulande tagtäglich um gesellschaftliche Inklusion, auch in der Politik. Das müsste sich dringend ändern.
Eigentlich sind die Spielregeln glasklar: Das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben wird in der UNO-Behindertenrechtskonvention explizit festgehalten. Doch bei der praktischen Umsetzung hapert es, auch in der Schweiz. Denn hierzulande wird Menschen mit Behinderungen der Zugang zu politischen Strukturen noch immer erschwert. So sind etwa diverse Parteiveranstaltungen oder Abstimmungsunterlagen nicht für alle zugänglich. Gleichzeitig mangelt es an Assistenzleistungen und Nachteilsausgleichen, die viele Menschen mit Behinderungen nicht nur für den eigenen Wahlkampf, sondern auch für die politische Teilhabe benötigen würden. In der öffentlichen Wahrnehmung wiederum spielen diese Missstände nur eine Nebenrolle.
Das Problem der Sichtbarkeit
Wie kommt es zu dieser Situation? Menschen mit Behinderungen stellen in der Schweiz eine beachtlich grosse Bevölkerungsgruppe dar: Jede fünfte Person hierzulande lebt mit einer Behinderung, eine Tatsache, die viele Schweizerinnen und Schweizer ebenso beeindruckt wie überrascht. Ein Mitgrund für das eher geringe Bewusstsein für das Thema lässt sich laut Fachleuten auch auf die fehlende Sichtbarkeit der Betroffenen zurückführen: So sind manche Einschränkungen, insbesondere kognitive und psychische, nicht auf den ersten Blick erkennbar. Hinzu kommt, dass der erste Arbeitsmarkt, zahlreiche kulturelle Veranstaltungen sowie die Politik nicht ausreichend inklusiv sind – darum trifft man Menschen mit Behinderungen in diesen wichtigen Bereichen kaum an. Ein weiterer Faktor: In der Schweiz leben etwa 150 000 Menschen in Heimen und sind dadurch von der Gesellschaft relativ abgeschirmt.
Personen mit Behinderungen fühlen sich vor allem in den Lebensbereichen Mobilität, Kultur, Freizeit und Sport, Bildung und Arbeit sowie Politik diskriminiert. Menschen mit einer körperlichen Einschränkung müssen tagtäglich sowohl bauliche Hürden als auch Barrieren im öffentlichen Verkehr überwinden. Der Zugang zu zahlreichen Freizeitaktivitäten und Sportarten bleibt ihnen ebenfalls verwehrt. Die Berufstätigkeit wiederum – eine wesentliche Voraussetzung für Inklusion – stellt viele Betroffene vor eine weitere Barriere, da der erste Arbeitsmarkt nur teilweise auf ihre Bedürfnisse angepasst ist. Fachleute halten zudem fest, dass ein grundlegendes Problem in veralteten Vorstellungen über Menschen mit Behinderungen besteht: Immer noch sei der Fürsorgegedanke vorherrschend, wodurch Personen mit Behinderungen indirekt ihre Autonomie abgesprochen wird.
Die Forderung nach politischer Inklusion
Auf diese gesellschaftliche Problematik Einfluss zu nehmen, wäre Aufgabe der Politik. Jedoch benötigt es für relevante politische Veränderungen Stimmen von Betroffenen, welche Menschen mit Behinderungen auf nationaler Ebene repräsentieren und für sie sprechen können. Doch derzeit sind Menschen mit Behinderungen in den Parlamenten untervertreten, im Bundeshaus politisieren mit Christian Lohr und Philipp Kutter nur zwei Politiker mit sichtbaren Behinderungen. Allerdings zeichnet sich diesbezüglich ein Silberstreifen am Horizont ab: In diesem Jahr kandidieren über 30 Personen mit Behinderungen für den Einzug ins Parlament.
Die zu geringe Repräsentation in öffentlichen Gremien ist für Menschen mit Behinderungen allerdings nicht das einzige Problem im politischen Kontext: Sie werden auch beim Stimm- und Wahlrecht benachteiligt. So sind etwa Abstimmungs- und Wahlunterlagen sowie weiterführende Informationsquellen nicht vollumfänglich hindernisfrei. Zum Beispiel können Menschen mit Sehbehinderungen nicht eigenständig wählen und abstimmen. Eine Teillösung auf Bundesebene ist zwar in Arbeit, funktioniert aber noch eher mangelhaft. Für Personen mit Hörbehinderungen ergeben sich ebenfalls Schwierigkeiten. Für sie würden sich unter anderem Erklärvideos in Gebärdensprache anbieten. Zuletzt gilt es, auch Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in die Politik miteinzubeziehen. Ihr Verständnis für politische Fragen sowie den Abstimmungsprozess könnte man mit Leichter Sprache fördern.
Die erste Behindertensession
Der Blick auf die heutige Ist-Situation verdeutlicht: Es gibt noch viel zu tun auf dem Weg zur politischen Inklusion. Sie wäre dann erreicht, wenn Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte und Chancen wie Menschen ohne Behinderungen haben. Dafür benötigen sie Repräsentation auf allen föderalen Ebenen, vom Gemeinde- bis zum Bundesrat. Betroffene kennen die überwindbaren Hürden am besten und könnten viel für andere Menschen mit Behinderungen bewirken. Ein erstes Anzeichen für einen Wandel war die Behindertensession im März 2023 in Bern: Daran nahmen 44 gewählte Personen teil, welche sich mit der Resolution «Vollständige politische Teilhabe jetzt!» an die Politik und die Gesellschaft wandten. Ein Parlament, in dem Menschen mit Behinderungen vertreten sind, stellt einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft dar. Die Politik hat Vorbildcharakter, aber sie orientiert sich auch an der Schweizer Verfassung, in der die Rechte von Menschen mit Behinderungen bislang unzureichend formuliert sind. Die im April dieses Jahres lancierte Inklusionsinitiative will daher bewirken, dass das Gesetz für die rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderungen in allen Lebensbereichen sorgt.
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