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Deutschland Erziehung Gesellschaft

»Challenge« statt »Bubble«

19.04.2022
von Rüdiger Schmidt-Sodingen

Zu viel und zu lange drinnen oder vor dem Computer? Programme für Familien sollen nicht nur die Psyche des Nachwuchses, sondern auch die Familienbande stärken. Und wirken im besten Fall auch nach außen.

Die Coronapandemie hat auch für Familien einiges verändert. Viele Kinder und Jugendliche mussten ihre Aktivitäten nach drinnen verlegen, weil sie draußen keine Freund:innen treffen konnten oder der Sportverein zusperrte. Dazu saßen plötzlich Mama oder Papa im Kinderzimmer, um vom kleinen Schreibtisch aus, vor Ninjago-Postern und Kuscheltieren, endlose Zoom-Meetings abzuhalten. 

Familienzeit nach Corona

Das alles hat Familien zwangsweise und vor allem räumlich näher zusammengebracht. Aber hat es auch die Familienbande gestärkt und mehr Verständnis füreinander geweckt? Letzteres darf getrost bezweifelt werden, denn es kam in den Lockdowns laut einem Suchindex des ifo-Instituts zu vermehrten Gewalttaten gegenüber Partner:innen und Kindern.

Familien buchen vermehrt Apartments auf längere Zeit oder quartieren sich in Familienhotels ein, (…).

Auch wiederkehrende Depressionen traten laut der KKH Kaufmännischen Krankenkasse bundesweit vermehrt auf. Ein Großteil der Kinder wurde laut einer Studie der Uniklinik Leipzig dicker, »durch weniger Sport und Spiel und den Verlust einer Tagesstruktur«. Ein anderer Teil, vor allem Mädchen im Teenageralter, entwickelte in der Isolation mit nicht besprochenen Problemen und Instagram-Dauerbeschuss Magersucht. 

Das »Home Sweet Home«, das eben nur dann sweet ist, wenn man regelmäßig vor die Tür und sich ausprobieren kann, wurde für manche Kinder aber auch Erwachsene eher zu einem Un-Ort, einer Nonstop-Büro-Indoor-Lern-Hölle.

Mit dem ausgerufenen Ende der Corona-Vorsichtsmaßnahmen sollen Kinder nun wieder wirklich gestärkt werden. Und natürlich können Defizite bei der Bewegung, bei der Bildung, beim Selbstvertrauen, beim Finden von Freunden oder beim Schwimmenlernen nur draußen, vor der Tür, wirklich kuriert werden. 

»Aufholen nach Corona«

Das »Aufholen nach Corona« wird von der Bundesregierung durch ein eigenes, zwei Milliarden Euro schweres Aktions- und Förderprogramm gefördert. Das Programm betrifft den »Bereich der frühkindlichen Bildung, zusätzliche Sport-, Freizeit- und Ferienaktivitäten sowie Unterstützung für Kinder und Jugendliche im Alltag«. Auch zusätzlichen Förderangebote zum Ausgleich der Lerndefizite werden unterstützt.

Neben der sprachlichen Bildung in Kindertagesstätten will die Bundesregierung auch Eltern-Kind-Treffs stärken, dazu Hebammen, Familienberater:innen und unabhängig von festen Zeiten stattfindende, digitale Bildungsangebote. Sport- und Kulturverbände sollen zusammen mit Pfadfindern, Jugendfeuerwehren und Naturfreunden ihre Angebote erhöhen und gezielt dabei helfen, dass Kinder und Jugendliche in der Gruppe wieder Erfolgs- und Gemeinschaftserlebnisse haben. 

Mit 50 Millionen Euro soll berechtigten Familien zudem »ein vergünstigter Urlaub in einer gemeinnützigen Familienferienstätte oder in einer gemeinnützigen Erholungseinrichtung in Deutschland« finanziert werden. Das Programm »Corona-Auszeit für Familien – Familienferienzeiten erleichtern« will Familien auch dazu bringen, freizeit-pädagogische Angebote wahrzunehmen. Für den Aufenthalt müssen die Familien zehn Prozent der Übernachtungs- und Verpflegungskosten zahlen. Die übrigen neunzig Prozent werden bezuschusst.

 Mehr raus, mit Konzept und Aufgaben

Natürlich können Familien auch anderweitig überlegen, wie sie draußen vor der Tür wieder ein neues Bewusstsein für die Umgebung, sich selbst und die Natur entwickeln. Schaut man in die Veranstaltungsprogramme, finden sich zahllose neue und altbewährte Möglichkeiten, die Freizeit aktiv mit anderen Menschen zu verbringen. Zoos und Wildparks sind geöffnet, die Theater und Kinos spielen wieder – und überall dort kann man ja lernen, sich aktiv auf etwas einzulassen und das oberflächliche Videogeprassel und sekündliche News-Zucken zu verlassen. 

Auch die Ferienindustrie bereitet sich auf eine wiederentdeckte Lust am Urlaub vor. Das Reservierungssystem Amadeus verzeichnet seit Herbst 2020 dabei eine Zunahme von Gruppenreisen – der Solo-Tourist hat offensichtlich vorerst ausgedient. Familien buchen vermehrt Apartments auf längere Zeit oder quartieren sich in Familienhotels ein, die allerdings auch eine Art Abschottung darstellen können.

Endlich mal über Wiesen streifen, im Meer baden, einen Sonnenuntergang sehen.

Wichtiger als die Unterkunft sind ohnehin die Möglichkeiten vor der Tür: Endlich mal über Wiesen streifen, im Meer baden, einen Sonnenuntergang sehen. Ein besonderes Programm hat sich seit Jahren der Kinderzirkus Dobbelino ausgedacht, der mit mehrtägigen Kursen und einem Sommerprogramm auf der autofreien Nordseeinsel Juist »den zunehmenden Bewegungsmangel und die Phantasie- und Kreativitätslosigkeit bei Kindern angeht«. Kinder werden binnen weniger Tage zu Artisten ausgebildet – und finden so »zurück in die dreidimensionale Welt«. 

Auch über das Erlebte zu sprechen, anderen Menschen zuhören, sich in andere Schicksale einfühlen – all das kann gerade Kinder bereichern, die ja viel durch Kommunikation lernen und dann für sich wiederholen und abspeichern. Vielleicht ist deshalb das Projekt der Mehrgenerationenhäuser besonders spannend und vielversprechend.

Einerseits docken diese kommunalen Häuser gerade an die großen gesellschaftlichen Themen wie Nachhaltigkeit, Interkulturalität oder Digitalisierung an. Andererseits ermöglichen sie eine Wiederbegegnung von Jung und Alt abseits der Büro-Kinderzimmer und abgeschirmten Seniorenheime.  

Text Rüdiger Schmidt-Sodingen

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