Die Ansprüche an Mütter sind nach wie vor groß. Nicht zuletzt, weil sich viele Frauen Schwächen nicht eingestehen wollen, ins alte Rollenbild der Frau gepresst werden oder mit einem fragwürdigen Zeitbegriff hadern.
Eine Mutter erzählt. »Ich habe es mir schon etwas anders vorgestellt. Es ging ja dann alles sehr schnell. Ich war plötzlich raus aus dem Job, du wartest dann auf dein Kind, gehst zu den Vorsorgeuntersuchungen und dann kommt eben die Entbindung. Danach sitzt du zu Hause. Irgendwie war ich natürlich auch stolz. Ich habe meine Tochter angeschaut, fotografiert und konnte das kleine Wesen kaum fassen.
Aber nach ein paar Wochen und Monaten sitzt du dann zu Hause, immer noch, und wünscht dir etwas von der alten Freiheit. Du bist völlig fremdbestimmt, nichts ist mehr planbar. Ich fühle mich oft richtig ausgelaugt, erschöpft und traurig.«
Täglicher Urlaub
Dass Mütter Pausen oder Auszeiten brauchen, ist eine Binsenweisheit. »Wir können nicht dauerhaft Vollgas geben oder auch nur halbwegs konzentriert bei einer Sache sein. Wir alle brauchen kleine Pausen während jedes Tages und auch größere Pausen oder Auszeiten, in denen wir abschalten und wieder Kraft tanken können«, schreibt die Medizinerin, Epidemiologin und Entspannungstrainerin Angelina Bockelbrink in ihrem Blog. Sie rät dazu jeden Tag kleine Wohlfühlpausen für sich einzubauen, sich vom Perfektionismus zu verabschieden, Prioritäten aus den eigenen Fähigkeiten zu formulieren und täglich »gesunde Routinen« für einen besseren Schlaf und eine bessere Ernährung zu etablieren.
»Das Leben ist da, um gelebt zu werden! Nicht, um es abzuarbeiten.
Die österreichische Mentaltrainerin Michaela Willig schreibt dazu überzeugt: »Das Leben ist da, um gelebt zu werden! Nicht, um es abzuarbeiten. Wenn es Ihnen gelingt, darauf den Fokus zu legen, fühlen Sie auch wieder Energie und Freude.« Willig führt Mütter, aber auch Kinder und Jugendliche, gerne in die Wälder, um dort, »weit weg von unserem Alltag« vom sinnlichen Erlebnis der Umgebung zur eigenen Klarheit zu finden.
Männer auf Rennrädern
Eigentlich könnte der Partner ja für Entlastung sorgen. Aber die Realität sieht oft anders aus, wie Paula Scheidt im September 2020 im Magazin des Schweizer Tagesanzeigers analysierte. Der »Mythos der gleichberechtigten Partnerschaft« zerbreche praktisch schon beim Blick aus dem Fenster.
Scheidt sieht einen jungen Mann auf einem Rennvelo um die Ecke biegen, ganz locker und leicht, frei, ohne viel Gepäck. »Ist er auf dem Weg in eine Bar? Trifft er Freunde? Ach nein, nun taucht eine Frau hinter ihm auf, außer Atem, sie tritt schwer in die Pedale. An ihrem Velo ist ein Anhänger montiert, darin zwei schreiende Kleinkinder, darauf eine große Tasche.«
Scheidts Fazit: »Ungleich verteilte Lasten, vermutlich nicht nur in den Taschen, sondern auch in den Köpfen.« Die Autorin rechnet in ihrem Artikel anschließend vor, dass eine Frau mit 40-Stunden-Arbeitswoche inklusive Familie und Haushalt mal eben auf ein Arbeitspensum von 91 Wochenstunden komme. Offensichtlich wird der Begriff der »«starken Frau« besonders auch von Partnern ausgenutzt, um sich selber und nicht etwa der Partnerin Freiräume zu schaffen.
Perfektionismus vergessen
Auf PostpartumProgress.com erörtert Jacqueline Green, die Gründerin von Great Parenting Simplified ein weiteres Problem: den schädlichen Hang zum Perfektionismus. Dieser, so Green, führe dazu, dass sich die meisten Frauen hoffnungslos überfordert fühlen. Sie rät: »Erwarte lieber, dass du und deine Kinder durchschnittlich sind! Das wird dir viel Frust ersparen. Denn ironischerweise ist es so: Wenn du keine Energie dadurch verschwendest, dass du frustriert oder enttäuscht bist, wirst du viel mehr Energie haben.«
»Mach dir bewusst, was dir wichtig ist, was du gern machst und was du gut kannst. Alle anderen Dinge streiche von deinen To-Do-Listen und aus deinem Leben.«
Auszeiten, die zu mehr Ruhe und Ausgeglichenheit führen, wirkten umgekehrt auch auf die Kinder. Die Kinder erinnern sich vielleicht sogar daran und nehmen die Zeit, die ihre Mutter sich gönnte, um wirklich zu leben und glücklich zu sein, als Erfahrung und Lehre fürs eigene Leben mit. Auch deshalb rät Angelina Bockelbrink zu einer radikalen »Entgiftung«: »Mach dir bewusst, was dir wichtig ist, was du gern machst und was du gut kannst. Alle anderen Dinge streiche von deinen To-Do-Listen und aus deinem Leben.«
Die Zeit-Falle
Besonders belastend wirken auch die unendlichen Zeit-Diskussionen, die die einzelnen Lebensabschnitte und Rollen als Mutter, Partnerin oder Organisatorin begleiten, spiegeln und kommentieren. Erst haben Frauen angeblich nur eine begrenzte Zeit für die Karriere, dann für die Partnersuche, dann für ein Kind, dann fürs Sexy-Sein, für den Wiedereinstieg in den Beruf, für die tägliche Arbeitszeit und so weiter.
Vera Hewener beschrieb vor fast zwei Jahrzehnten in einem Artikel für »Aus Politik und Zeitgeschichte« die »geschlechterspezifischen Unterschiede im Umgang mit Zeit«, basierend auf einer Befragung des Gesundheitsamtes des Stadtverbandes Saarbrücken. Hewener stellte fest: Bei fast der Hälfte der befragten Frauen belastete Zeitdruck das Herz-Kreislauf-System, »was auch der Mortalitätsrate der Frauen an akuten Myokardinfarkten entspricht. Das bedeutet, dass Frauen bei Dauerstress eher körperlich erkranken können als Männer«.
Rollenbild der Frau
Auf dem Internationalen Frauen*Film Fest in Köln lief vor drei Wochen der Dokumentarfilm »For Your Peace of Mind, Make Your Own Museum« von Pilar Moreno und Ana Endara. In ihm tauschen sich die Bewohnerinnen eines Dorfes in Panama zwischen allen möglichen Antiquitäten über ihre Leben und Träume aus. Und die Zeit und vor allem die Hektik? Haben so gut wie keine Bedeutung mehr.
Text Rüdiger Schmidt-Sodingen
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