kuhreihen
Kultur Schweiz

Die Geschichte der Kuhreihen

03.07.2021
von Fatima Di Pane

Kuhreihen sind Hirtenlieder, die bereits vor über 200 Jahren gesungen wurden und bis heute einen festen Platz in der Schweizer Kultur haben. Um die Melodie rankt sich sogar eine geheimnisvolle Sage.

Es ist eine Melodie, die jede:r Schweizer:in bestimmt schon gehört hat. Die Silben «Lioba, lio-o-ba…» schallen in den Alpen, in so manchem Wirtshaus oder in Festzelten. Auch beim Alpabzug finden sie den Weg in die Ohren der Anwesenden. Die Rede ist von den Kuhreihen, auch «ranz des vaches» oder «Lioba» genannt. Bei diesen handelt es sich um eine spezielle Gattung von Hirtenliedern. «Die Kuhreihen sind seit mehr als 200 Jahre als Symbol der Hirten, der Alpen und der Schweiz bekannt», sagt Isabelle Raboud, Ethnologin und Direktorin des Musée gruérien in Bulle. Der Brauch hat seine Wurzeln in mehreren ländlichen Gegenden der Schweiz, darunter das Emmental, das Entlebuch, das Appenzell sowie Pays-d’Enhaut und Les Ormonts. Um die Entstehung der Kuhreihen rankt sich auch eine Sage (siehe Infobox).

Von den Alpen auf die Bühne

Ursprünglich wurde der Gesang dazu verwendet, um die Zeit zum Melken, die Rückkehr in den Stall oder den Alpabzug zu signalisieren. Doch er entwickelte sich weiter. «Publikationen, Literatur, Musik und Festspiele brachten die Kuhreihen auf die Bühne. Das erste Beispiel ist das Unspunnenfest nähe Interlaken 1805, später die Fête des Vignerons in Vevey 1819», erklärt Raboud. Heute bildet der Gesang des ranz des vaches den Höhepunkt der Fête des Vignerons. Zuletzt erhoben sich die 20 000 Zuschauenden an jeder der zwanzig Vorstellungen, um den Refrain gemeinsam mit dem Chor zu singen.

Ein Tag beim Alpaufzug

Eine Version der Kuhreihen hat sich mittlerweile durchgesetzt. Diese wird im Greyerzer Patois gesungen, einer alten Mundart aus der Romandie. «Der Text erzählt vom Ablauf eines Tages des Alpaufzuges», erzählt Isabelle Raboud. «Ein Bach versperrt den Weg.» Es beginnt mit: Wir Chüejer z’Colombettes / Wir tüe am Morge früe ufstah / Und wie mer da zum Bärgbach chämme / Keine va üs cha druber ga. Der ranz des vaches hat beeindruckende 19 Strophen und zwei verschiedene Refrains, die abwechselnd gesungen werden.

Schmerzliches Heimweh

Die Kuhreihen zogen grosse Kreise in der Geschichte. Komponisten wie Beethoven, Liszt oder Wagner fanden Inspiration im Hirtenlied. Auch hatte es seit eh und je einen ganz speziellen Platz im Herzen der Schweizer:innen. Gleich zwei Ärzte, Johannes Hofer und Johann Scheuchzer, hielten ihre Beobachtungen dazu fest. Hofer berichtete 1688, dass der Klang von Kuhreihen bei Schweizer Söldnern ein derart unerträgliches Heimweh verursachte, dass sie desertierten. Scheuchzer vermerkte 1718 Ähnliches und nannte es «la maladie du pais». Darüber hinaus soll das Spielen oder Singen von Kuhreihen unter ernster Strafe gestanden haben, da als Konsequenz immer wieder Söldner das Weite suchten, um in die Heimat zurückzukehren, so Scheuchzer.

Noch immer populär

Auch heute wird die Tradition der Kuhreihen gepflegt. «Diese Melodie ist ein Symbol, das in Jazz und moderner Musik reinterpretiert wird. Das Lied wurde von Joseph Bovet – und bis heute noch von mehreren Komponisten – als vierstimmiges Chorlied harmonisiert», erzählt Isabelle Raboud. «Diese Version gehört zum Repertoire vieler Chöre, vor allem im Kanton Fribourg und in der Romandie.»

Text Fatima Di Pane 

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Die Sage über die Entstehung der Kuhreihen: Eine kurze Nacherzählung

Vor langer Zeit sömmerte ein Berner Senn seine Kühe auf der Balisalm im Hasli. Nach getaner Arbeit legte er sich zur Nachtruhe ins Wildheu. In der Nacht wurde er von seltsamen Geräuschen geweckt und schaute, ohne sich zu erkennen zu geben, was in der Hütte vor sich ging. Er erblickte drei fremde Männer, welche einen grossen Käsekessel über das Feuer rückten.

Die drei waren gar unheimliche Gestalten. Einer von ihnen war gross wie ein Riese, der zweite ein grüngekleideter Jäger, der dritte ein Jüngling mit blonden Locken. Die Gestalten machten sich gemeinsam am Käsekessel zu schaffen. Der Jüngling leerte Milch hinein, der Jäger goss blutrotes Lab. Daraufhin begann der Riese damit, die Milch umzurühren.

Der Jüngling nahm ein Horn zur Hand und öffnete die Hüttentüre. Einen Moment lang war es still, dann erfüllten wunderschöne Klänge den Raum. Der Senn hatte so etwas noch nie zuvor gehört. Die Melodie schien direkt aus seinen Träumen, aus seiner tiefsten Seele zu kommen. Sie erfüllte ihn mit Glück und Schwere gleichermassen. Dann hörte er seine Herde, die vom mysteriösen Lied magisch angezogen worden zu sein schien. Die Glocken der Kühe betteten sich wie von Zauberhand in die Melodie. Selbst die Berggeister schienen in den Gesang einzustimmen, die Alpen waren vom Klang erfüllt.

Als der Gesang verstummte, hatte der Riese am Käsekessel seine Arbeit beendet. Er schöpfte die Milch in drei Schüsselchen. Jedoch erschien sie in einem Schüsselschen blutrot, im zweiten grasgrün und im dritten schneeweiss. Der Senn hatte die Geschehnisse stumm beobachtet und erschreckte sich sehr, als sich der Riese plötzlich an ihn wandte: «Komm her, Menschlein. Du sollst dir eine Gabe wählen.» Zitternd näherte sich der Senn den drei Gestalten. Diese stellten ihn vor die Wahl: Er sollte aus einem der drei Schüsselchen trinken.

Tränke er von der roten Milch, würde er stark und mutig werden wie ein Riese und hundert schöne Kühe bekommen. Das Trinken der grünen Milch versprach hundert Taler und wertvolles Gold. Die weisse Milch würde ihm derweil die Fähigkeit verleihen, so traumhaft singen und Alphorn blasen zu können, wie es der Jüngling eben getan hatte.

Der Senn musste nicht lange überlegen und griff sogleich nach der weissen Milch. Es war die schmackhafteste Milch, die er je gekostet hatte. Der Jüngling lobte seine Wahl. Und plötzlich waren die Gestalten verschwunden. Am nächsten Morgen hielt der Senn die Geschehnisse für einen Traum, das Alphorn neben ihm verhiess aber anderes. Die Gestalten hatten ihr Versprechen eingehalten: Der Senn konnte nun so traumhaft singen, jodeln und Alphorn blasen wie der Jüngling. Er gab diese Fähigkeit stets weiter. Sie überdauert bis heute.

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