Schweizer Start-ups als Innovationsmotoren zur Optimierung globaler Lieferketten
Die Bedeutung von Lieferketten ist spätestens seit der Coronapandemie, der Ever-Given-Havarie im Suezkanal und der anhaltenden Chip-Krise im breiten gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen. Nur wenige Industriezweige waren in den vergangen drei Jahren von Problemen in ihren Lieferketten verschont.
Eine Umfrage der Berner Fachhochschule im Sommer 2022 zeigte, dass über 50 Prozent der teilnehmenden Schweizer Unternehmen mit Schwerpunkten in der Metall-, Elektro- und Maschinenindustrie sowie der Holz-, Papier- und Druckindustrie die Auswirkungen der Lieferkettenstörungen als stark wahrnehmbar beurteilten (n=433). Dabei gaben mehr als 90 Prozent an, von Preissteigerungen betroffen zu sein, und fast Dreiviertel mussten mit fehlenden Beschaffungsgütern umgehen. Die am stärksten betroffenen Warengruppen lagen bei Elektronikkomponenten (ca. 65 Prozent), Metallen (ca. 60 Prozent) und Kunststoffen (ca. 50 Prozent).
Verschiebung der Ziele
Die Herausforderungen, um eine ausreichende Verfügbarkeit von Vorprodukten sicherzustellen, zwingen Unternehmen dazu, ihre Lieferketten neu zu konzipieren und widerstandsfähiger sowie flexibler zu gestalten. Darüber hinaus erhöht sich der Druck auf Unternehmen, weitere Zielgrössen wie ökologische und soziale Nachhaltigkeit in ihr Lieferkettenmanagement zu integrieren. Dies ist nicht nur aufgrund von Klimazielen und steigenden Gesetzesvorgaben (Lieferkettengesetze und nicht finanzielle Berichterstattung) erforderlich, sondern auch aufgrund wachsender Nachhaltigkeitsanforderungen von Kunden und anderen Interessensgruppen. In der Vergangenheit wurden Lieferketten auf Effizienz ausgerichtet, jedoch wird immer deutlicher, dass ein ganzheitliches Lieferkettenmanagement mehrere Zielgrössen simultan berücksichtigen muss. «Trade-offs» müssen explizit adressiert werden und mögliche Zielkonflikte sollten gelöst werden. Lag in der Vergangenheit der Fokus auf Kosteneinsparungen, so ist heute die Verfügbarkeit von Vorprodukten in mehrstufigen, globalen Lieferketten nicht mehr selbstverständlich. Zusätzlich dürfen jedoch auch andere strategisch wichtige Aspekte wie die Identifikation und Integration externer Innovationen von Lieferanten oder die Sicherstellung der Nachhaltigkeit bis zum Rohstoff bei Unterlieferanten nicht vernachlässigt werden.
Um die Herausforderungen im Lieferkettenmanagement zu bewältigen, setzt man immer mehr auf technologiebasierte Innovationen, die von automatisierten Prozessen über die Nutzung von Big Data bis hin zur Einführung von künstlicher Intelligenz reichen. Eine besondere Bedeutung werden dabei Start-ups als Innovationsmotoren zugesprochen. Es lohnt sich, hierbei in der Schweiz zu starten: Die durch die Berner Fachhochschule lancierte Initiative «Swiss SupplyChainTech» legt ihr Augenmerk spezifisch auf Start-ups und macht deren Lösungen sichtbar.
«Start-up Map»
Insgesamt werden rund 150 Schweizer Start-ups entlang der Supply-Chain-Prozesse vom Einkauf über die Intralogistik hin zur Distribution zum Kunden und der übergeordneten Planung durch die «Swiss SupplyChainTech»-Initiative betrachtet. Mehrere davon unterstützen Unternehmen beim Umgang mit den aktuellen Herausforderungen in den Lieferketten, z.B. im Rahmen der Bewertung von Lieferanten und Risiken oder der Verfolgung und Steuerung von Warenflüssen. Die sogenannte «Start-up Map» stellt die Innovationsmotoren anhand von 16 Kategorien dar. Im vergangenen Jahr wurden 20 Start-ups neu in die Map aufgenommen. Analysen gehen davon aus, dass jährlich eine vergleichbare, wenn nicht sogar steigende Anzahl an neuen Start-ups zu den Themenfeldern in der Schweiz zu beobachten sein wird.
Eine «Swiss SupplyChainTech»-Studie untersuchte im Frühsommer 2022 rund 30 Start-ups detaillierter. Die technologische Komplexität der Lösungen der Start-ups zeigt sich in der benötigten Entwicklungszeit bis zur Marktreife: Die Mehrheit der Unternehmen benötigt zwischen 12 und 24 Monaten für die Erstellung eines «Minimum Viable Product» (MVP), wobei die durchschnittliche Entwicklungszeit bei ca. eineinhalb Jahren liegt.
Potenziale ausschöpfen
Hinsichtlich der Technologietrends schätzen die befragten Start-ups den erreichten Reifegrad ihrer Lösungen bereits als hoch ein. Allerdings zeigt sich eine deutliche Varianz bei der Ausschöpfung des entsprechenden Technologiepotenzials unter den Start-ups. Tendenziell wird die Potenzialausschöpfung (wo zutreffend) von 3D-Druck, 5G-Einsatz und Robotik-Lösungen bereits als hoch eingestuft. Bei Cloud-Technologie, digitalen Zwillingen, Track-and-Trace-Lösungen sowie KI-Anwendungen wird die Potenzialausschöpfung als teilweise erreicht angegeben, während die Potenzialausschöpfung von Low-Code- und Blockchain-Lösungen als eher gering eingestuft wird. Robotic Process Automation (RPA), Natural Language Processing (NLP) und Augmented/Virtual Reality (AR/VR) spielen bislang eine geringe bis keine Rolle für die Lösungen der Start-ups.
Nachhaltigkeit
Obwohl die Start-up Map von «Swiss SupplyChainTech» eine eigene Kategorie für «Nachhaltigkeit» aufweist, ist es bemerkenswert, dass die Start-ups in den anderen Kategorien ebenfalls wertvolle Beiträge zu den 17 Nachhaltigkeitszielen (SDGs) leisten, direkt oder indirekt. Dazu gehören Lösungen wie die Auswahl und Bewertung nachhaltiger Lieferanten, Herkunftsnachweise, Mehrweggebinde, Reduzierung von Verpackungsmaterial in der Logistik, Transportbündelungen, Routenoptimierungen und weitere Aspekte entlang der Lieferkette.
Die Gesamtsicht auf die Start-ups präsentiert eine Vielzahl von Lösungsansätzen für die gegenwärtigen Herausforderungen in Lieferketten. Diese Ansätze erstrecken sich entlang der gesamten Wertschöpfung und umfassen sowohl Prozesse vom Rohstoff bis zum Kunden als auch interne Logistik-Abläufe. Der Mehrwert dieser Lösungen steigt, wenn Start-ups ihre Ansätze einfach in bestehende Systeme integrieren und die Konnektivität und Interoperabilität insgesamt verbessern können. Eine gute Grundvoraussetzung ist bereits dadurch gegeben, dass Start-ups die Software-bezogenen Elemente ihrer Lösungen auf Cloud-Plattformen wie SAP BTP, AWS oder Microsoft Azure aufsetzen und Schnittstellen berücksichtigen. Dies ermöglicht sowohl kleinen und mittleren Unternehmen, die Lösungen der Start-ups pragmatisch zu integrieren, als auch grösseren Unternehmen, leichter Entscheidungen zugunsten von «jüngeren» Anbietern zu treffen.
Text Jörg Grimm
Autor
Jörg Grimm ist Professor für Supply-Chain-Management an der Berner Fachhochschule und Gründer der Start-up-Initiative «Swiss SupplyChainTech». Er verfügt über langjährige Beratungs- und Industrieerfahrung in der Logistik-, Automobil- sowie Öl- und Gas-Industrie. Seine Forschungs- und Beratungsschwerpunkte liegen in der Gestaltung nachhaltiger Wertschöpfungsnetzwerke, innovativer Technologien für die Supply Chain sowie im Management von Unterlieferanten.
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