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Recht

Braucht der Justizstandort Schweiz ein internationales Handelsgericht?

04.11.2021
von SMA

Ein internationales Handelsgericht würde dem Megatrend der Globalisierung gerecht werden und steht deshalb in der Diskussion. Vor allem für international tätige KMUs könnte ein solches von Interesse sein. Was sonst noch dafür spricht, und was dagegen, weiss «Fokus».

Die Wirtschaft agiert schon seit langer Zeit weltweit. Lieferketten erstrecken sich über die gesamte Welt, der Trend zum Offshoring liess in den verschiedensten Ländern Ableger von Firmen entstehen und auch der Arbeitsmarkt organisiert sich zunehmend global. Dieser Entwicklung hinkt das Rechtssystem jedoch noch etwas hinterher. Gleichzeitig steigt aufgrund der zunehmenden globalen Vernetzung von Unternehmen und den sich teilweise stark unterscheidenden rechtlichen Regelungen in den einzelnen Staaten das Bedürfnis nach Institutionen, die sich darauf verstehen, internationale Streitigkeiten zu entscheiden.

Bis anhin wurden für solche Belange die Schiedsgerichte in Anspruch genommen. Im Vergleich zu staatlichen Gerichten kann das Verfahren an Schiedsgerichten sehr flexibel gestaltet werden und in der Regel schneller abgeschlossen werden. Doch ein Verfahren an einem Schiedsgericht setzt verschiedene Bedingungen voraus und kann schnell teuer werden, weshalb die Inanspruchnahme vor allem für KMU oft unrealistisch ist.

Alternative zu Schiedsgerichten

Neben den Schiedsgerichten implementieren einige Staaten in jüngerer Zeit spezialisierte Handelsgerichte. «Ein Handelsgericht ist wie jedes andere Gericht eine staatliche Institution – also staatlich finanziert, ausgestattet und organisiert. Es gilt das staatliche Verfahrensrecht, insbesondere der Öffentlichkeitsgrundsatz, während Schiedsgerichte nach eigenen Regeln verfahren und in der Regel vertraulich verhandeln. Im Gegensatz zu Schiedsgerichten haben die Parteien vor dem staatlichen Gericht ausserdem keinen Einfluss auf die Besetzung des Gerichts», erklärt Prof. Dr. Florian Eichel, Dozent und Direktor am Institut für Internationales Privatrecht und Verfahrensrecht der Universität Bern. 

In der Schweiz bestehen solche Fachgerichte bereits in den Kantonen Aargau, Bern, St. Gallen und Zürich. Diese sind auf wirtschaftliche Streitigkeiten in den verschiedensten Branchen spezialisiert und unterliegen der staatlichen Rechtsordnung. «Die kantonalen Handelsgerichte der Schweiz können auch von ausländischen Parteien in Anspruch genommen werden, insofern eine Zuständigkeit in der Schweiz besteht», sagt Eichel. Damit fehlt an den bestehenden Handelsgerichten eine besondere internationale Ausrichtung, welche aber zunehmend gefragt wird. Eichel führt aus: «Ein international ausgerichtetes Handelsgericht soll – wie der Name sagt – nicht nur auf Handelsstreitigkeiten, sondern auf internationale Handelsstreitigkeiten spezialisiert sein und eine Infrastruktur bieten, die diesen Rechtsstreitigkeiten gerecht wird.»

Internationales Handelsgericht

Um ein internationales Handelsgericht umzusetzen, müssten auch Anpassungen an der Schweizer Zivilprozessordnung vorgenommen werden. «Offensichtlich ist, dass die ZPO es ermöglichen müsste, dass das handelsgerichtliche Verfahren auf Englisch geführt und das Urteil zusätzlich in dieser Sprache veröffentlicht werden kann. Wenn sich ein solches Gericht für Streitigkeiten öffnen wollte, die keinen Bezug zur Schweiz haben, müsste man wohl auch die Vorschrift über Gerichtsstandsvereinbarungen im Gesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG) anpassen. Förderlich wäre es ausserdem, wenn die Schweiz das Haager Übereinkommen vom 30. Juni 2005 über Gerichtsstandsvereinbarungen ratifizieren würde, was derzeit ohnehin politisch debattiert wird», zählt Eichel die wichtigsten Änderungen auf.

Damit ergeben sich aber auch Konsequenzen für die Anwält:innen und Richter:innen. Einerseits müssten diese folglich Englisch schreiben und sprechen können. «Genauso wichtig ist andererseits ein Verständnis für internationale Fälle: Rechtsordnungen sind zumeist auf Inlandsfälle zugeschnitten, sodass für manch ein Problem mit Auslandsbezug die Rechtslage noch unklar ist. Schliesslich braucht es ein Gespür für eine internationale Verfahrenskultur», weiss Eichel.

Justizstandort Schweiz

Die Implementierung eines internationalen Handelsgerichts soll den Schweizer Justizstandort weiter stärken. Gerade in puncto internationaler Verfahrenskultur sieht Eichel eine Chance für die Binnenmodernisierung: «Manch ein Gericht hat den Ruf, etwas zu formalistisch zu entscheiden. Die Ausrichtung eines Gerichts auf internationale Fälle könnte nicht nur die Vorzüge des schweizerischen Rechts zur Geltung bringen, sondern auch Erfahrungen sammeln, um die eigene Verfahrenskultur fortzuentwickeln.» Die Schweiz, welche für ihre Neutralität bekannt ist, könnte dadurch ihre Position im internationalen Markt der Rechtsdienstleistungen stärken. «Was die Schiedsgerichtsbarkeit, das ‹handelsfreundliche und schlanke schweizerische Zivilrecht› sowie die Erfahrung mit der Mehrsprachigkeit angeht, hat sich die Schweiz auf diesem Markt bereits einen guten Ruf erworben. Es ist zudem nicht auszuschliessen, dass ‹die Erweiterung des Sortiments› um ein staatliches Handelsgericht auch den Schiedsstandort stärkt, weil die Sichtbarkeit der Schweiz insgesamt erhöht wird», so Eichel. Letztlich könnte ein gestärkter Justizstandort auch positive Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Schweiz haben.

Trotz aller Vorteile kann man sich in Anbetracht der Schiedsgerichte fragen, ob ein internationales Handelsgericht tatsächlich den Aufwand wert wäre. Neben spezialisierten Richter:innen, einer erfahrenen Gerichtskanzlei und einem spezifischen Internetauftritt wäre laut Eichel womöglich auch eine Bereitschaft nötig, über Fälle zu entscheiden, welche keinen Bezug zur Schweiz haben. «Das kostet Steuergeld. Ob die Vorteile dieses Geld wert sind, ist genauso eine politische Frage wie diejenige, ob der Staat überhaupt handeln oder diese Aufgabe der privaten Schiedsgerichtsbarkeit überlassen soll.»

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