nik hartmann von fre-  talschaften
Editorial Sommer

Von Freund- und Talschaften

16.07.2022
von SMA

Die vergangenen zwei Jahre haben uns das Nahe näher gebracht. Die Einsicht, dass die grösste Reise auch vor der eigenen Haustüre starten kann und keine Zeitzonen zwischen Start- und Endpunkt der Reise, keine Flugreise notwendig sein müssen, um ein Abenteuer zu erleben. 

Nik Hartmann

Nik Hartmann

Selbstverständlich entdecke ich liebend gerne neue Länder, esse mich durch Speisekarten, ohne dass ich ein einziges Wort einer Speise oder gar einem Tier zuordnen kann. Ich liebe es, im Meer zu baden und kann stundenlang wie Hans Guckindieluft durch Häuserschluchten echter Weltstädte schlendern.

Reisen bildet, sagt man. Da bin ich einverstanden: Ich kann mich an nichts so detailgetreu erinnern, wie an Erlebnisse, die ausserhalb meines gewohnten Alltags stattgefunden haben. Ob in Australien, USA, Simbabwe oder im Berner Oberland.

Das Ungewohnte brennt sich dabei ins Langzeitgedächtnis. Dabei ist es bei mir aber eben völlig egal, ob das Erlebte tausende Kilometer weg von zu Hause oder innert der Landesgrenzen stattgefunden hat. 

Man hat mich hier gebeten, meine Freude am Reisen in der Schweiz Kund zu tun. Das mache ich gerne. Und weil es neben all den bekannten Hotspots noch so viel zu entdecken gibt, verrate ich Ihnen gerne einen Geheimtipp.

Es ist nämlich so, dass es nebst all den auf Instagram abgebildeten Tourismusikonen auch unendlich viele gleichsam schöne Orte gibt, die niemand kennt. Das ist wie bei qualitativ gleichwertigen Kleidungsstücken, bei denen sich das Stück mit dem bekannten Markenlogo drauf um ein vielfaches besser verkauft, als das Noname-Shirt.

Also los, ab ins Unbekannte! Wir brauchen einen Rucksack und eine bergtaugliche Ausrüstung, und wir starten bei mir zu Hause. 

Die Sonne scheint mir direkt ins Gesicht. Sie steht noch einen Daumen breit über dem Horizont. Die Gipfel der Berner Alpen im Westen werden noch nachglühen.  Ich sehe vom Ufer des Zugersees die schattige Eigernordwand, den weissen Gipfelgrat des Mönchs, die höchsten Kuppen der Jungfrau und links daneben das Wetterhorn, das Luter- und das Finsteraarhorn. Ich könnte von hier bis nach Grindelwald sehen – wären da nicht noch der Brünig und die grosse Scheidegg dazwischen. So nah liegt bei uns alles beieinander. Unser Land ist wie ein Themenpark: Attraktion grenzt an Attraktion. So wie die Wildwasserbahn gleich an die Mittelmeerwelt grenzt und diese der Alpenbobbahn Nachbar ist. 

Es ist nämlich so, dass es nebst all den auf Instagram abgebildeten Tourismusikonen auch unendlich viele gleichsam schöne Orte gibt, die niemand kennt.

Gleich hinter dem Hügel noch vor den Berner Alpen liegt eine meiner grossen Lieben. Eine Landschaft, die das Urige im Namen trägt. Es ist das Urbachtal. Um dahin zu kommen, fahre ich bis Innertkirchen. Hier gehts im Süden ein paar Kurven hoch.

Die grossen Touristenströme meiden das Tal. Die ziehen über den Grimselpass ins Wallis, über den Susten. Hierhin kommen nur wenige. Und das zu recht. Das Urbachtal ist nämlich nichts für Anfänger. Die Schönheit und Mächtigkeit dieses Tales im Berneroberland verlangt mehr Ausdauer und Bewunderung als die Nachbartäler mit Bergbahnen. Es gibt keine Gipfel zu bestaunen, und die Zweitwohnungsdichte ist gleich Null. Wir haben so viele von diesen wertvollen Landschaften, dass wir sie gar nicht alle für die Turnschuhreisegruppen rausputzen können.

Anderswo auf der Welt wäre das Urbachtal bestimmt eine grosse Attraktion: Die Amis hätten sicherlich schon lange einen Nationalpark daraus gemacht. Hier nicht. Die wuchernde  und herbe Schönheit des Urbachtals wird gekonnt totgeschwiegen. Ich ahne auch warum:  Die Schönheit dieser Insel in der globalisierten Hektik hat man zwar schon vor langer Zeit erkannt, hat sie aber geheim gehalten: «Auf keinen Fall weitersagen. Das behalten wir für uns!», echot es von den steilen Felswänden hinab. Es ist eine ungeschminkte Schönheit südlich von Innertkirchen. 

Ich erinnere mich an einen späten Herbsttag. Es ist noch angenehm warm. Das Urbachtal liegt vor uns, und wir sind auf dem Weg zur Gaulihütte. Das Tal könnte der kleine Bruder des viel berühmteren Lauterbrunnentals sein. Die selben senkrechten Felswände begrenzen eine saftige Hochebene.

Doch im Gegensatz zu seinem touristisch  erschlossenen Bruder, ist das Urbachtal unbewohnt. Eine urtümliche Leere erfüllt das Tal. Man sagt, es sei das tiefste, unbewohnte Tal der Alpen. Das Wort «Kraftort» wird mir allmählich allzu oft und zu inflationär für jeden Geländeübergang, jeden alten Baum und jeden zweiten Steinhaufen missbraucht, doch hier im Tal passt er. J.R.R. Tolkien wäre auch hier für die spätere Beschreibung vom fantastischen Bruchtal inspiriert worden. Stattdessen machte der «Herr der Ringe»-Schriftsteller nebenan Ferien im Lauterbrunnental.

Der Weg hoch zur Gaulihütte ist lang, aber zwingend notwendig. Denn nur wer die 1400 strengen Höhenmeter hinter sich bringt und auf der Hütte über dem Gauligletscher übernachtet, erlebt am nächsten Tag beim Abstieg das Urbachtal vor sich in seiner bescheidenen Pracht. 

Text Nik Hartmann

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