Interview von SMA

Tom Raftery: «Eine nachhaltige Lieferkette ist heute für Unternehmen unabdingbar»

Der Industrieveteran und Supply-Chain-Blogger ver­deutlicht an einem Fallbeispiel, welche Massnahmen zu einer nachhaltigen Lieferkette verhelfen.

Supply Chain Management kann heute nicht mehr losgelöst von der Nachhaltigkeitsthematik betrachtet werden. In beiden Feldern ist Tom Raftery, Industrieveteran und Supply-Chain-Blogger, eine wahre Autorität. «Fokus» wollte von ihm wissen, wie man Lieferketten nachhaltiger gestaltet – und zwar auf pragmatische Art und Weise.

Tom Raftery

Tom Raftery, welche Herausforderungen ergeben sich für Unternehmen, die ihre Supply Chains nachhaltiger gestalten möchten und wie lassen sich diese Challenges sinnvoll adressieren?

Auf dem Weg hin zu einer nachhaltigeren Lieferkette müssen Unternehmen mehrere Hürden überwinden und sich mit komplexen Fragestellungen auseinandersetzen. Eine wesentliche Herausforderung ergibt sich durch die Tatsache, dass Lieferketten heute in der Lage sein müssen, sowohl nachhaltig als auch widerstandsfähig zu sein. Die grossen Treiber dieser Entwicklung sind die Digitalisierung sowie die zunehmend von den Endkundinnen und -kunden geforderte Transparenz, die sich bis hinunter in die unternehmerischen Lieferketten erstreckt. Die Forderung nach einer höheren Supply-Chain-Stabilität, beziehungsweise Versorgungssicherheit, wurde durch Covid enorm befeuert.

Welche Rolle spielte die Pandemie konkret?

Vor dem Ausbruch von Covid bestand der gängige Supply-Chain-Ansatz darin, so viele Kosten wie möglich einzusparen und die Lieferkette maximal-schlank zu gestalten. Aber Schlankheit bedeutet in diesem Zusammenhang auch Fragilität. Genau diesen Umstand hat uns die Pandemie schmerzlich vor Augen geführt: Durch den Ausfall gewisser Player innerhalb der globalen Versorgungskette entstand ein Kaskadeneffekt, der für gewisse Unternehmen, Güter sowie ganze Märkte enorme Versorgungsengpässe nach sich zog. Dementsprechend besteht heute das Bedürfnis, Lieferketten wieder widerstandsfähiger und damit weniger störungsanfällig zu machen.

Doch wie macht man eine Supply Chain demnach resilienter, ohne dass dadurch ihre Perfomance leidet?

Die Werkzeuge der Digitalisierung ermöglichen es durchaus, eine gesunde Mischung aus Schlankheit und Widerstandsfähigkeit zu erzielen. Ferner sollten Unternehmen sicherstellen, dass ihre Lieferkette vielfältig und bis zu einem gewissen Grad redundant ist. Auf diese Weise bringt ein möglicher partieller Ausfall nicht gleich das gesamte System zum Erliegen. Diese Resilienz ist ihrerseits ein wichtiger Aspekt einer «nachhaltigen» Supply Chain. Und aus diesem Plus an Sustainability ergeben sich nicht nur prozesstechnische oder monetäre Vorteile, sondern auch soziale sowie imagetechnische.

Wie meinen Sie das?

Eine ökologisch-nachhaltige und gleichzeitig resiliente Lieferkette ist für Unternehmen und Organisationen im sozialen Kontext enorm relevant. Als zum Beispiel 2011 in Japan das grosse Erdbeben mit anschliessenden Tsunami-Überschwemmungen stattfand, fielen mehrere Fabriken aus und es kam zum heute berüchtigten Fukushima-Vorfall. Praktisch sofort sahen sich Unternehmen weltweit unter Druck, nachhaltiger zu werden. Heute sehen wir, dass Kundinnen und Kunden nicht mehr bereit sind, Dienstleistungen oder Produkte von Unternehmen zu beziehen, die ihre ethische Verantwortung in ihren Augen nicht ausreichend wahrnehmen. Umweltschäden oder Kinderarbeit werden nicht mehr toleriert. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht nur auf die Customerbase von Firmen, sondern auch ihre Mitarbeitenden, denn diese üben ihrerseits Druck auf die Organisationen aus: Sie wollen eine sinnstiftende Arbeit verrichten bei einem Unternehmen, das ihre Werte teilt. Eine nachhaltige Supply Chain ist für Unternehmen daher aus marktwirtschaftlichen, kulturellen und Imagegründen unabdingbar. Ferner fordern auch vermehrt Investor:innen und Aktionär:innen die Einhaltung solcher nachhaltiger Gesichtspunkte, denn die Awareness hierzu steigt in Finanzkreisen ebenfalls. Sogar Banken ziehen diese Faktoren bei der Gewährung von Krediten in Erwägung.

Eine ökologisch-nachhaltige und gleichzeitig resiliente Lieferkette ist für Unternehmen und Organisationen im sozialen Kontext enorm relevant. Tom Raftery

Wie werden Ihres Erachtens aufstrebende Technologien wie künstliche Intelligenz und Blockchain die Nachhaltigkeit von Lieferketten beeinflussen?

Diese Technologien erschliessen eine Vielzahl an grossartigen Möglichkeiten. «Large Language Models» wie Chat GPT und Co. sind dazu in der Lage, eine enorme Menge an Informationen aufzunehmen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Viele dieser Modelle sind Open-Source-basiert und damit leicht zugänglich. Künftig werden Unternehmen diese KI-Anwendungen immer stärker mit praxisrelevanten Fragen füttern können. Zum Beispiel: «Welche meine Zulieferer sind im Hinblick auf eine nachhaltige Lieferkette kritisch einzuordnen? Und welchen Partnerunternehmen sollte ich dementsprechend mehr oder weniger Aufträge erteilen?» Die Fülle an Daten sowie die Verfügbarkeit schlauer KI-Anwendungen werden uns zunehmend in die Lage versetzen, unternehmerische Entscheidungen nicht mehr allein aufgrund finanzieller Überlegungen zu treffen, sondern beispielsweise auch auf Basis von Emissionsdaten. Und dies ist nur die Spitze des Eisbergs: Computervision, sprich die KI-gestützte Qualitätskontrolle in der Fertigung, birgt ebenfalls ein enormes Potenzial. Davon profitieren auch Mitarbeitende. So kann eine KI etwa die Produktionsfläche einer Fabrik überwachen und melden, wenn jemand keine Sicherheitsweste trägt. Ein weiteres Feld, in dem die Computerintelligenz massive Fortschritte mit sich bringen wird, ist die Bestandskontrolle und Lagerverwaltung. Diese ist heute recht knifflig und aufwendig, was sich mittel- bis langfristig merklich verbessern dürfte.

Welche Erfolgsgeschichte eines Unternehmens, das die Nachhaltigkeit seiner Lieferketten verbessern konnte, würden Sie als Musterbeispiel heranziehen?

Das Engagement von Microsoft scheint mir in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Der Techgigant hat viele interessante Massnahmen ergriffen. Unter anderem hat Microsoft seine Lieferantenbasis diversifiziert. Zu diesem Zweck holte man auch kleinere Unternehmen an Bord, achtete darauf, Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zu verpflichten sowie frauengeführte Betriebe heranzuziehen. Ferner hat man viel in Bezug auf die eigenen Emissionen unternommen und sich zu ambitionierten Zielen verpflichtet: Bis 2030 streben die Amerikaner netto null an und bis 2050 möchten sie sämtlichen, jemals von ihrem Konzern emittierten Kohlenstoff ausgleichen. Dazu wurden eine Milliarde Dollar in einen Fonds investiert, um Unternehmen zu unterstützen, die Ausgleichsdienstleistungen anbieten. Darüber hinaus verlangt Microsoft auch von seinen Lieferanten, ihre Emissionen zu melden. Gemeinsam mit diesen Firmen arbeitet man dann an Strategien, um auch diese Abgasmenge zu senken.

Welche Ratschläge würden Sie Unternehmen geben, die gerade erst damit beginnen, ihre Lieferketten nachhaltiger zu gestalten?

Es gibt mehrere Schritte, die diese Betriebe unternehmen müssen. Erstens: Sie sollten ihre Emissionen als Ausgangspunkt messen. Darauf basierend kann man konkrete Ziele formulieren – und regelmässig über die Fortschritte berichten. Dies erhöht die Transparenz sowie das Gefühl der Verpflichtung. Glücklicherweise gibt es mehrere Organisationen, die darauf spezialisiert sind, kleine und mittlere Unternehmen bei dieser Emissionsmessung zu unterstützen, darunter Greenly und Normative.

Wie lautet der zweite Schritt?

Man sollte jeden Bereich, soweit möglich, auf die Nutzung von Elektrizität umstellen. Sprich, Firmen sollten auf E-Transport setzen sowie elektrisch heizen und kühlen. Von Öl und Gas und sollte man sich so schnell wie möglich emanzipieren. Anschliessend lohnt es sich, zu einem Energieanbieter zu wechseln, der zu 100 Prozent erneuerbare Energien verwendet. Ferner lege ich Unternehmen das gleiche Vorgehen ans Herz, das bei Microsoft so erfolgreich war: Fordern Sie Ihre Lieferanten auf, ihre Emissionen zu melden und arbeiten Sie mit ihnen zusammen, um ihnen bei der Reduktion zu helfen. Und der letzte Schritt: Stellen Sie sicher, dass alle KPIs Ihrer Führungskräfte mit der Reduzierung von Kohlenstoff verknüpft sind. Denn ein zusätzlicher, extrinsischer Motivator schadet nie (lacht).

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Zur Person

Tom Raftery war unter anderem bei SAP für die Förderung von digitalen Innovationen zuständig. Heute gehört er zu den Vordenkern in essenziellen Feldern wie digitales Supply Chain Management, Nachhaltigkeit, Internet der Dinge und Klimaschutz. Auf seiner Website tomraftery.com findet man auch Zugang zu seinem «Sustainable Supply Chain Podcast», der auf die erfolgreiche Etablierung nachhaltiger Lieferkettenstrategien fokussiert.

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23.01.2024
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