Interview von Marina S. Haq

6 Schritte zu einer gesunden Unternehmenskultur

In der heutigen Welt, in der Mental Health und Work-Life-Balance eine wichtigere Rolle spielen als in vorherigen Generationen, hat sich «Corporate Health», auch bekannt als «Gesundheit am Arbeitsplatz», neu positioniert. Denn Studien weisen darauf hin, dass die Arbeitsumgebung einen grossen Einfluss auf die Gesundheit der Arbeitnehmenden hat. Im Gespräch gewährt Delphine Caprez, Direktorin und Gründerin von Health Management DC, Senior Associate Consultant für das Resilience Institute sowie Co-Autorin des neu erschienenen Buches «Performance-Bienveillance, Osez le Care-isme!», einen tieferen Einblick in das Thema.

Frau Delphine Caprez, was ist «Corporate Health»? 

Es gibt so viele Definitionen von Corporate Health, wie es Menschen gibt. Für mich ist Corporate Health die Unternehmensstrategie, die darauf abzielt, die Mitarbeitenden und Führungskräfte zu betreuen und zu pflegen. 

Hat die Bedeutung von Corporate Health über die Jahre zugenommen? Und falls ja, inwiefern? 

Das hat zum Glück zugenommen. Es hat sich zwar weiterentwickelt, obwohl das viele Arbeitnehmende nicht finden. Die meisten Unternehmen setzen sich heute für die Gesundheit und die Resilienz ihrer Mitarbeitenden, aber die Letzteren bemerken dies vielleicht nicht, weil auch der Druck in den letzten Jahren gestiegen ist, vor allem in Bezug auf die Digitalisierung. Die Menschen sind heute gestresster und depressiver als noch vor fünf Jahren. Obwohl die Bedeutung der Gesundheit im Unternehmen also zugenommen ist, spüren wir das vielleicht nicht.

Wie beeinflussen Arbeitgebende die Corporate Health von Angestellten? 

Alle in einem Unternehmen sind dafür verantwortlich, sich um die Menschen im Umfeld zu kümmern, ganz gleich, ob sie ein:e Manager:in oder ein:e Mitarbeiter:in sind. In der Unternehmenswelt sehe ich oft die Diskrepanz zwischen dem, was wir in Bezug auf die betriebliche Gesundheitsstrategie sagen, und dem, was in der Praxis tatsächlich getan wird. Vertrauen, Respekt, Vorbildfunktion, Empathie, Flexibilität, Inklusion, Diversität, Autonomie, Sinnhaftigkeit und Wertschätzung stehen zwar in jedem Organigramm von Unternehmen in der Schweiz, aber ob diese Elemente auch tatsächlich umgesetzt werden, ist eine andere Sache.

Alle auf der höchsten Ebene müssen erkennen, wie wichtig es ist, mit gutem Beispiel voranzugehen.

Oft liegt es daran, dass es nicht von oben nach unten weitergegeben wird, etwa vom Vorstand. Alle auf der höchsten Ebene müssen erkennen, wie wichtig es ist, mit gutem Beispiel voranzugehen. Denn je höher man kommt, desto mehr Einfluss kann man entfalten. Man muss es vorleben, wenn man will, dass es funktioniert.  

Welche Faktoren in der Arbeitsumgebung beeinflussen die psychische und physische Gesundheit? 

Ein schlechtes Arbeitsumfeld ist dann gegeben, wenn es keine Flexibilität, Vielfalt, Autonomie, Empathie, Vorbildfunktion, Verbindung zwischen den Werten der Mitarbeitenden und des Unternehmens gibt und wenn zwar eine betriebliche Gesundheitsstrategie besteht, diese aber von keinem der Manager tatsächlich befolgt wird. Ein solches Arbeitsumfeld wirkt sich negativ auf die geistige und körperliche Gesundheit aus. 

Im Ganzen gibt es sechs Säulen, die zu berücksichtigen sind.

Psychische Gesundheit: Dies bezieht sich auf Depressionen, Angstzustände, Burn-out, aber auch auf schlechten Schlaf, der zu chronischem Stress führen kann und damit auch die körperliche Gesundheit beeinträchtigt. 

Körperliche Gesundheit: Eine sitzende Tätigkeit kann die körperliche Gesundheit beeinträchtigen und zu Übergewicht führen. Ein weiterer Aspekt, der sich negativ auswirkt, ist die Zeit, die vor einem Bildschirm verbracht wird. Dies kann zu dem führen, was wir als Computer-Vision-Syndrom bezeichnen: schlechtes Sehvermögen, verschwommenes Sehen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Schulter- und Nackensteifheit. 

Emotionale Gesundheit: Empathie ist ebenfalls ein äusserst wichtiger Aspekt. Mangelt es in einem Unternehmen an emotionaler Beweglichkeit, kann sich dies negativ auf die emotionale Gesundheit einer Person auswirken. 

Soziale Gesundheit: Die soziale Gesundheit wird durch ein toxisches Umfeld beeinträchtigt, wenn Menschen einen ausgrenzen und beiseiteschieben. Das ist der Fall, wenn man sich einsam fühlt, obwohl man Teil eines Teams ist. Dies wirkt sich negativ auf die allgemeine Gesundheit aus. 

Finanzielle Gesundheit: Hier geht es um die Fürsorgepflicht gegenüber den Arbeitnehmenden. Bei der derzeitigen Inflation könnten die Arbeitgeber beispielsweise dafür sorgen, dass sich die Massnahmen nicht negativ auf das finanzielle Wohlergehen der Arbeitnehmenden auswirken, denn wenn man nicht in der Lage ist, seine Rechnungen zu bezahlen, kann sich das negativ auf die allgemeine Gesundheit, Belastbarkeit und Produktivität auswirken. Die Rolle des Arbeitgebers besteht auch darin, die Arbeitnehmenden bei der Vorbereitung auf den Ruhestand zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass die finanzielle Gesundheit erhalten bleibt. 

Digitale Gesundheit: Als Arbeitgeber muss man die Grenze ziehen, wann man erreichbar bleiben darf und wann nicht. Diese Debatte hat seit der Pandemie dramatisch zugenommen. Die ständige Erreichbarkeit hat dazu geführt, dass die Menschen das Gefühl haben, weniger Zeit für sich zu haben. Die Arbeit hat viel Platz im Privatleben der Menschen eingenommen, es gibt weniger Work-Life-Balance, jetzt, da sie ihre Kollegen in ihrem eigenen Wohnzimmer haben können, zum Beispiel durch die Nutzung von Zoom. Digitale Gesundheit bedeutet, dass die Mitarbeitenden die Technologie an ihre Bedürfnisse anpassen, anstatt von ihr benutzt zu werden. 

Während sich ein schlechtes Arbeitsumfeld negativ auf die Säulen auswirken kann, wirkt sich eine positive Strategie der betrieblichen Gesundheitskultur positiv darauf aus.

Interview Marina Haq
Portraitfoto Roneesha Irani  

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16.07.2022
von Marina S. Haq
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