Interview von SMA

«Das Ertragspotenzial von Blockchain-Anwendungen wird derzeit noch unterschätzt»

Die Blockchain ist eine noch junge Technologie mit grossem Potenzial. Nima Pouyan, Head Invesco ETF Switzerland & Liechtenstein, erklärt im Interview, wie sie in den verschiedenen Branchen eingesetzt werden kann und wo noch Anlagechancen bestehen.

Die Blockchain ist eine noch junge Technologie mit grossem Potenzial. Nima Pouyan, Head Invesco ETF Switzerland & Liechtenstein, erklärt im Interview, wie sie in den verschiedenen Branchen eingesetzt werden kann und wo noch Anlagechancen bestehen. 

Nima Pouyan

Herr Nima Pouyan, der Begriff Blockchain ist zwar heute in aller Munde, aber nicht so einfach zu erklären. Was ist Blockchain?

Die Blockchain wurde 2008 als Rückgrat der weltweit ersten Kryptowährung «Bitcoin» entwickelt. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um ein offen einsehbares Kontobuch, das alle getätigten Transaktionen transparent dokumentiert. Das Potenzial der Blockchain-Technologie für eine grundlegende Veränderung der globalen Wirtschaftswelt reicht jedoch unseres Erachtens weit über diesen anfänglichen Einsatzbereich hinaus.

Allerdings müssen die von der Blockchain dokumentierten Transaktionen nicht notwendigerweise finanzielle Transaktionen sein. Beim dokumentierten Anlagewert kann es sich um einen physischen Vermögenswert, eine Kryptowährung, einen Vertrag, eine Akte oder sonstige Informationen handeln.

Sie sagen, dass man bei Blockchain-Transaktionen Vertrauen haben kann, also sicher ist, ohne dass man vertrauen haben muss. Was heisst das?

Weil ein Vorteil der Blockchain-Technologie darin besteht, dass mehrere Parteien zu einer zentralen Dokumentation von Eigentumsrechten beitragen und dieser vertrauen können, ohne sich gegenseitig vertrauen zu müssen. Die weiteren Vorteile sind die hohe Transparenz und Prüffähigkeit, das geringe Betrugsrisiko und die schlanken Geschäftsabläufe. Jede:r Nutzer:in hat eine eindeutige Adresse und es wird ein Kontobuch geführt, in dem alle Transaktionen umfassend dokumentiert sind.

Um eine Transaktion zu beauftragen, braucht man eine Blockchain-Adresse. Bei Kryptowährungen zum Beispiel könnten Sie eine Zahlung von Ihrer Blockchain-Adresse an die Blockchain-Adresse einer anderen Person beauftragen. Die Zahlung wäre die Transaktion, die dann, sofern sie als legitim verifiziert worden ist, dem Blockchain-Kontobuch hinzugefügt wird. Es handelt sich dann um eine permanente, nachverfolgbare und nicht mehr veränderbare Buchung.

Wie sieht so eine Anwendung in der Praxis aus?

Das Handelsunternehmen Walmart etwa nutzt die Blockchain, um die Lieferketten bestimmter Waren zu überwachen. Den Anstoss dazu gab ein Vorfall im Jahr 2018. Damals wurden in Teilen der USA Kolibakterien im Salat gefunden. Walmart hat ein riesiges landesweites Netzwerk von Agrarbetrieben, die das Unternehmen beliefern. Ohne die Möglichkeit, nachzuvollziehen, von welchem Lieferanten einzelne Produkte stammen, könnte sich das Unternehmen gezwungen sehen, den gesamten angebotenen Salat komplett aus dem Verkehr zu ziehen. Alle Salat- und Spinat-Lieferanten von Walmart müssen den Weg ihrer Erzeugnisse jetzt in einer Blockchain-Datenbank dokumentieren. Durch die Nachverfolgung der Erzeugnisse vom Agrarbetrieb, ja und sogar dem relevanten Betriebsteil, bis zur Filiale sorgt die Blockchain für eine sichere, permanente und nachträglich nicht mehr veränderbare Nachverfolgbarkeit.

Wie können Anleger:innen das Potenzial der Blockchain-Technologie nutzen?

Die Blockchain ist eine noch junge Technologie, und wir denken, die meisten Anlagechancen finden sich aktuell in bestehenden Unternehmen, die das Potenzial dieser Technologie noch nicht erschlossen haben. Das Ertragspotenzial von Blockchain-Anwendungen für diese Unternehmen wird vom Markt unserer Meinung nach derzeit unterschätzt, weil die Investoren es noch nicht zureichend einschätzen oder bewerten können.

Reine Blockchain-Unternehmen gibt es am Markt aktuell kaum. Die meisten Unternehmen, die zusätzliche Erträge durch Blockchain-Anwendungen generieren könnten, sind in anderen Geschäftsfeldern etabliert und die Blockchain stellt für sie nur eine zusätzliche Erlösquelle dar. Investor:innen, die in der Lage sind, dieses verborgene Potenzial frühzeitig zu identifizieren und zu erschliessen, könnten sich Anlagemöglichkeiten bieten.

Wie schätzen Sie das Wachstum der Anwendungen ein?

Die Blockchain-Industrie hat sich in den vergangenen 18 Monaten enorm weiterentwickelt. Dadurch eröffnen sich attraktive Anlagemöglichkeiten für Investor:innen – so das Ergebnis einer unabhängigen Studie von Keith Bear und Michel Rauchs.

In welchen Branchen vor allem?

Unternehmen in den unterschiedlichsten Sektoren – vom Versicherungs- und Bankwesen bis hin zu Bereichen wie Handelsfinanzierungen und Transport – nutzen inzwischen Blockchain-Netzwerke für kommerzielle Zwecke und erreichen damit zunehmend eine kritische Grösse. In jüngster Zeit sind mehrere neue öffentliche Blockchain-Netzwerke für Geschäftsanwendungen an den Start gegangen und die Zahl der hybriden Public-Private-Blockchains für Geschäftsanwendungen im Massenmarkt wächst.

Das Ethereum-Netzwerk zum Beispiel hat sich als unangefochtener Marktführer bei Smart-Contract-Anwendungen etabliert – dank weit verbreiteter Token-Standards und leicht verfügbarer Softwaretools für die Entwicklung von Anwendungen, die auf dem Netzwerk aufsetzen. Allerdings herrscht ein harter Wettbewerb und Ethereum muss seine Position bereits gegen mehrere Netzwerke verteidigen, die erst seit Kurzem am Markt sind, aber starke Finanzgeber hinter sich haben.

Geht es dabei vor allem um Kryptowährungen?

Nein, nicht nur, obwohl diese die grösste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Auch andere Vermögenswerte haben ein starkes Wachstum. Dazu gehören digitale Fiatwährungen, digitale Wertpapiere, die die Kapitalmärkte modernisieren und die breiter angelegte Tokenisierung bestehender physischer Vermögenswerte. 

Facebook will mit einer als Stablecoin konzipierten Kryptowährung eine Art Weltwährung einführen. Wie ist da der aktuelle Stand und wie beurteilen Sie die Zukunft in Richtung bargeldlose Gesellschaft mit einer digitalen Währung?

Ob eine bargeldlose Gesellschaft tatsächlich möglich ist, wurde in den letzten zwei Jahren auf die Probe gestellt. Durch Covid-19 sahen wir uns aufgrund von Schliessungen und räumlicher Distanzierung gezwungen, die meisten Finanztransaktionen online abzuwickeln, sei es mit einer herkömmlichen Bankkarte oder, in bestimmten Fällen, mit einer digitalen Geldbörse. Wer hätte vor Covid gedacht, dass Ladenbesitzer gefragt werden würden, ob sie Bargeld akzeptieren? 

Stablecoins sind eine weniger volatile Art von digitalen Vermögenswerten, die in der Regel entweder an einen physischen Vermögenswert wie Gold oder an eine Fiatwährung wie den USD oder den EUR gebunden sind und durch den Besitz des gebundenen Vermögenswerts besichert werden. Diese Eigenschaften könnten eine Vielzahl von Nutzern ansprechen, darunter auch Menschen ohne Bankkonto. Denken Sie daran, dass die Blockchain – die Technologie, die jedem Stablecoin und jeder Kryptowährung zugrunde liegt – entwickelt wurde, um die Effizienz zu verbessern und Zahlungen zu ermöglichen, ohne dass die Parteien einander vertrauen oder sich überhaupt kennen müssen. Stablecoins benötigen jedoch nach wie vor Finanzorganisationen, die unter anderem die Verwahrung übernehmen. Da derzeit rund 200 Stablecoins im Umlauf sind, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass nicht alle über das gleiche Mass an Sicherheit, Datenschutz oder Verwahrung verfügen werden. Auch wenn die Stablecoin-Branche weiterwachsen wird, müssen die Menschen verstehen, was sie verwenden.

Wie beurteilen Sie die Marktentwicklung 2022 und darüber hinaus?

Was den Ausblick auf die wichtigsten Marktentwicklungen im Jahr 2022 und darüber hinaus angeht, sehen wir eine Zunahme der M&A-Aktivitäten in der Branche. Das Fusionsgeschehen und die Unternehmenskäufe haben 2020 bereits zugenommen und insbesondere bei den Marktplätzen und den Verwahrstellen wird mit einer weiteren Konsolidierung gerechnet. Akquisitionen von Broadridge und ConsenSys deuten auf eine ähnliche Entwicklung im Enterprise-Blockchain-Marktsegment hin.

Ausserdem wird die Blockchain selbst, nachdem sie jahrelang im Mittelpunkt stand, künftig zunehmend in den Hintergrund rücken. Stattdessen wird der Fokus auf der Benutzererfahrung und kommerziellen Erwägungen liegen. Ohne dass die Endnutzer mitbekommen, was hinter den Kulissen passiert, finden Blockchain-Komponenten Eingang in die traditionellen IT-Systeme der Unternehmen, reduzieren deren Komplexität und machen sie nutzerfreundlicher.

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14.12.2021
von SMA
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