Interview von Akvile Arlauskaite

Andreas Zünd: «Demokratie geht nicht ohne Menschenrechte»

Seit letztem Jahr vertritt Andreas Zünd am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz. Im Interview mit «Fokus» gibt der ehemalige Bundesrichter Einblicke in seinen Werdegang und spricht über die täglichen Herausforderungen seines Amtes in Strassburg. 

Seit letztem Jahr vertritt Andreas Zünd am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz. Im Interview mit «Fokus» gibt der ehemalige Bundesrichter Einblicke in seinen Werdegang und spricht über die täglichen Herausforderungen seines Amtes in Strassburg. 

Herr Andreas Zünd, weshalb entschieden Sie sich für eine Karriere im Fachbereich Recht?

Ich war nicht vorbelastet. Ich habe – unschlüssig, was ich studieren soll – bald gesehen, dass Recht eine Gesellschaft voranbringen kann.

Sie können auf eine langjährige Karriere als Bundesrichter zurückblicken. Wie lautet Ihre Mission?

Eine Mission ist zu viel gesagt. Mir geht es um die Menschenrechte und die Demokratie. Das eine geht nicht ohne das andere.

Auf welche persönliche Errungenschaft sind Sie besonders stolz?

Ich konnte dazu beitragen, dass das Bundesgericht eine degressive Besteuerung als verfassungswidrig, genauer als unvereinbar mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, beurteilte. Auch das ist eine Frage der Gerechtigkeit.

Seit 2021 vertreten Sie am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Schweiz. Wie kamen Sie zu dieser Position?

Das war ein ziemlich langer Prozess, gestützt auf eine Bewerbung, teilweise vorgegeben vom Europarat. Am Ende muss der Mitgliedstaat, in der Schweiz der Bundesrat, auf Empfehlung einer parlamentarischen Kommission einen Dreiervorschlag machen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates, Parlamentarier:innen aus allen 47 Mitgliedstaaten, nehmen die Wahl vor.

Welche Voraussetzungen gilt es zu erfüllen, um am EGMR tätig zu sein?

Gemäss der Konvention muss man ein hohes sittliches Ansehen geniessen und entweder über die Qualifikationen für ein hohes richterliches Amt verfügen oder aber Rechtsgelehrte:r von anerkannter Kompetenz sein.

Sie sind nach Antoine Favre, der als erster Schweizer Richter am EGMR tätig war, erst der zweite Bundesrichter, der in dieses Amt gewählt wurde. Die weiteren Mitglieder waren ausschliesslich Professor:innen. Inwiefern agieren Richter:innen und Professor:innen in dieser Funktion möglicherweise unterschiedlich?

Schwierig zu sagen. Vielleicht so: Während Richter:innen auf den Einzelfall und die Analyse des Dossiers spezialisiert sind, untersuchen Professor:innen theoretische Zusammenhänge. Aber das ist idealtypisch. Eigentlich sollte man beides in sich vereinigen: Professorenrichter:in sein.

Was ist das Herausforderndste an Ihrer derzeitigen Position?

Ich beschäftige mich vor allem mit anderen Rechtsordnungen als der schweizerischen. Diese in ihrer Breite und Tiefe zu verstehen, ist die eine Herausforderung.

Der EGMR versucht kontinuierlich, seine Prozesse effizienter zu gestalten.

Eine andere ist, vor dem Hintergrund stetiger und aktuellster Veränderungen den für Europa geltenden Menschenrechtsstandard herauszuarbeiten.

Da wir gerade bei den Herausforderungen im Zusammenhang mit dem EGMR sind; In einem Artikel von SRF hiess es 2021, dass dieser chronisch überlastet sei. Vor einem Jahr waren 65 000 Fälle in Strassburg hängig. Hat sich mit der Einführung der neuen Strategie seither etwas geändert?

Der EGMR versucht kontinuierlich, seine Prozesse effizienter zu gestalten. Derzeit mit der sogenannten Impact-Strategie, bei der Schlüsselfällen der Vorrang eingeräumt wird. Wie erfolgreich das ist, werden wir in ein oder zwei Jahren sehen. Aber ich bin sicher, es wird dann auch wieder weitere prozessuale Reformen geben. Effizienz ist eine Daueraufgabe.

Um welche Art von Fällen handelt es sich bei der Impact-Strategie?

Es geht um Fälle mit Auswirkungen auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die weit über den Einzelfall hinausragen. Das kann die Klimaveränderung betreffen, die Pandemiebekämpfung, aber auch etwa Auskunftsrechte für Journalist:innen, Racial-Profiling oder das Streikrecht für Beamt:innen und vieles mehr. 

Der EGMR und die Schweiz stehen nicht immer in einer einfachen Beziehung zueinander. Regelmässig wird das Land wegen Menschenrechtsverletzungen gerügt. Inwiefern ist das Teil des «normalen» Prozesses?

Wo immer Menschenrechte verletzt werden und die jeweiligen nationalen Gerichte nicht für Abhilfe sorgen, greift der EGMR ein. Darum geht es gerade. Meine Antwort kann auch als Aufruf an die schweizerischen Gerichte verstanden werden, die Rechtsprechung des Gerichtshofs nahe zu verfolgen und zur Anwendung zu bringen.

Im Grunde sind Menschenrechte allgemein formuliert und allgemein gültig. Dennoch werden sie nicht auf alle Anliegen in gleichem Mass angewendet. Viele ziehen die Menschenrechte heran, um für Minderheiten oder mehr Klimaschutz zu argumentieren, obwohl diese traditionell nicht damit gemeint sind. Wie am EGMR mit dieser Diskrepanz umgegangen?

Ja, die Herausforderungen etwa durch die Klimaveränderung sind unglaublich gross. Zuerst denkt man, das würde die Allgemeinheit und nicht den Einzelnen betreffen.

Die Demonstrationsfreiheit ist eine Essentialia eines demokratischen Staates.

Aber am Ende kann doch jede:r Einzelne betroffen sein. Wie der EGMR damit umgeht, lässt sich noch nicht sagen. Dieser Prozess ist in vollem Gange.

Welchen Rechtsthemen, abgesehen von Umweltproblemen, begegnen Sie am EGMR aktuell am meisten?  

Von häuslicher Gewalt und Cybermobbing sowie der Ausgestaltung rechtlicher Dispositive dagegen, über Fragen zum Beginn und dem Ende des Lebens bis hin zu Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung und vielen weiteren Themen.

Eine wichtige Frage der letzten Jahre war, ob Demonstrationen während der Covid-19-Pandemie in der Schweiz verboten sein sollen oder mit bestimmten Einschränkungen und Auflagen durchgeführt werden dürfen. Wie steht es aktuell mit der Demonstrationsfreiheit im Zusammenhang mit diesem gesundheitlichen Notfall?

Auf der einen Seite folgt aus dem Recht auf Leben die positive Verpflichtung der Staaten, dafür besorgt zu sein, dass eine Pandemie beherrscht werden kann. Diese Verpflichtung darf aber nicht so umgesetzt werden, dass in andere Menschenrechte unverhältnismässig eingegriffen wird. Die Demonstrationsfreiheit ist eine Essentialia eines demokratischen Staates. Ein Totalverbot – das hat der EGMR eben zur Schweiz festgehalten – geht an das Herz der Demokratie und lässt sich nicht hinnehmen.

Die Menschenrechte gelten nicht nur in Friedenszeiten, sondern auch in Zeiten des Krieges. Kann der EGMR Länder für entsprechende Verletzungen tatsächlich verurteilen oder ist der Akt rein symbolischer Natur? Wie wird dabei vorgegangen?

Kriegerische Auseinandersetzungen unterliegen als solche nicht der Konvention. Für ihre Anwendbarkeit muss zuerst die Jurisdiktion eines Mitgliedstaates gegeben sein, was zunächst territorial, in den Grenzen des Staates, verstanden wird. Wenn ein Gebiet eines anderen Staates aber besetzt wird, kann die Jurisdiktion gegeben sein. Ein Beispiel aus Rechtsprechung ist etwa die Tötung von Zivilpersonen durch britische Truppen in einem von ihnen besetzten Teil des Iraks. Auf anhaltende Kampfhandlungen sind demgegenüber die Genfer Konventionen, nicht die EMRK anwendbar.

Der Ukrainekrieg beschäftigt die europäischen Organe. Nach dem endgültigen Ausschluss Russlands aus dem Europarat hat der zu ihm gehörende EGMR die Mitgliedschaft des Landes mit sofortiger Wirkung suspendiert. Können Sie die derzeitige Situation konkreter umreissen?

Der Präsident des EGMR hat als Folge des Beschlusses des Ministerkomitees über den Ausschluss aus dem Europarat die Beurteilung russischer Fälle ausgesetzt. Das war wohl nötig, weil die Rechtslage unklar war. In der Zwischenzeit hat das Plenum des EGMR in einer Resolution festgehalten, dass die Russische Föderation trotz sofortigem Ausschluss aus dem Europarat für weitere sechs Monate Vertragspartei der EMRK bleibt.

Die Klimaveränderung und der Krieg können die Menschheit auslöschen.

Danach ist allerdings die EMRK auf Russland nicht mehr anwendbar, was nicht anders denn als schwerer Rückschritt für die Menschenrechtslage in Europa gewertet werden kann. Russland hat bis anhin die Urteile des EGMR weitgehend umgesetzt. Es gab Ausnahmen, die aber auf der Agenda des Ministerkomitees blieben. Und man muss sagen, dass sich die Menschenrechtslage in Russland, auch dank der EMRK, in der Zeit der Mitgliedschaft dieses Landes stark verbessert hat. 

Ein Blick in die Zukunft: Was sind Ihrer Meinung nach angesichts der aktuellen Veränderungen in der Welt die grössten Herausforderungen, denen wir in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen gegenüberstehen werden?

Antonio Gramsci sagte einst: «Pessimismo dell’intelligenza, ottimismo della volontà». Die Klimaveränderung und der Krieg können die Menschheit auslöschen. Es kommt darauf an, statt die Stimmung aufzuheizen, den Weg der Verhandlung zu gehen. Und dann alle Energie auf die Bekämpfung des Klimawandels zu verwenden. Dazu können Richter:innen ein wenig, aber leider nicht allzu viel beitragen. Es kommt auf die Gesellschaft an.

Die Fälle, die vor dem EGMR landen, sind juristisch verstrickt und können die Entscheidungsträger:innen strapazieren. Wie gehen Sie mit der emotionalen Belastung um, die mit solchen Fällen verbunden ist?

Ich will einfach das tun, was in meiner Macht steht; und an dem, was ich nicht ändern kann, nicht verzweifeln.

Welcher Fall in Ihrer Karriere hat Sie besonders mitgenommen?

Ich glaube, als ich in den Neunzigerjahren als Ersatzrichter am Bundesgericht niemanden davon überzeugen konnte, dass wir einer Frau ausländischer Staatsangehörigkeit, die in schrecklicher Weise Opfer häuslicher Gewalt geworden war, als Folge davon nicht auch noch die Aufenthaltsbewilligung entziehen sollten. Vielleicht stand es nicht in meiner Macht, wie ich vorhin sagte, aber ich zweifelte an mir, dass mir dies nicht gelang.

Interview Akvile Arlauskaite Bild Candice Imbert

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20.04.2022
von Akvile Arlauskaite
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