feministische aktivistinnen an demonstration
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Gesellschaft Women

«Es ist nicht die Frau, die sich ändern muss»

19.10.2022
von Julia Ischer

Mia Jenni ist Vize-Präsidentin der Juso Schweiz, SP-Einwohnerrätin in Obersiggenthal und engagierte intersektionale Feministin. Im Interview mit «Fokus» spricht sie über ihre Ziele, die Zukunft der Frau und warum wir auch im Jahr 2022 noch immer Feminist:innen brauchen.

Mia Jenni. Aktivistin. Feministin

Mia Jenni
Vize-Präsidentin der Juso Schweiz

Frau Jenni, was möchten Sie mit Ihrem Einsatz für Mädchen und Frauen erreichen?

Ich möchte mithelfen, eine feministische Gesellschaft zu erschaffen. Eine Gleichstellung zwischen Mann und Frau reicht nicht, weil diese in einem System geschehen würde, das auf Diskriminierungen aufgebaut ist. Ich kämpfe für eine Gesellschaft, in der für jede:n das gute Leben möglich ist, unabhängig von der Herkunft, Hautfarbe, Identität, Sexualität, Körper oder Klasse. Erst wenn dies erreicht ist, sind wir am Ziel.

Sie haben im Master Germanistik und Kunstgeschichte studiert. Inwiefern hilft Ihnen der Abschluss beim Erreichen dieser Ziele?

In einigen Kunstrichtungen und literarischen Werken nehmen Überlegungen über feministische Fortschritte und Visionen in der Gesellschaft einen grossen Platz ein. Ich habe diesen Studiengang aber hauptsächlich gewählt, weil mich die Übersetzung der Gesellschaft in die Kunst und umgekehrt interessiert und inspiriert. Bei der Verfolgung meiner politischen Ziele helfen mir hingegen der politische Alltag und die Menschen, die ich dabei kennenlernen durfte, wohl effektiv mehr als mein Abschluss.

Eine feministische Analyse ist für mich erst vollständig, wenn die verschiedenen Inhalte miteinander verbunden werden können und man zusammenarbeitet. Mia Jenni

Welche ist bisher Ihre tollste Erfahrung im Einsatz als Feministin?

2018 habe ich eine Demonstration in Aarau mitorganisiert, weil die Fachstelle für Gleichstellung im Kanton Aargau abgeschafft wurde. Als ich gesehen habe, wie viele Menschen dafür anreisten, um mit anderen zu protestieren, habe ich gemerkt, dass ich als Feministin nicht alleine bin. Das war wie ein Weckruf für mich, den ich nicht mehr vergessen werde. Diese tiefe Verbundenheit mit anderen, teils fremden Personen und die grosse Solidarität untereinander fand ich sehr eindrücklich. Ein gemeinsamer Kampf für gewisse Ziele und gegen systematische Probleme, das war ein prägendes Erlebnis. Und dann natürlich das Organisieren für den Frauenstreik im Jahr darauf, der das Ganze noch einmal verstärkt aufgezeigt hat.

Und welches war das bisher schlimmste Ereignis?

Hier kann ich eher generelle Dinge aufzählen. Zum einen natürlich der Hass im Internet. Das Zermürbendste sind manchmal die immer noch anhaltenden Kämpfe, die eigentlich schon lange zu Ende sein sollten. Wird beispielsweise eine bestimmte Gruppe in einer Diskussion thematisiert, lässt man oft gar nicht direkt Betroffene zu Wort kommen, sondern es wird für sie gesprochen. Das ist sehr frustrierend und ich dachte eigentlich, dass wir dieses Problem schon im letzten Jahrzehnt abgehakt hätten.

Wir sprechen heute über Feminismus. Aber gibt es «den» Feminismus überhaupt?

Es gab schon immer verschiedene Strömungen im Feminismus und diese gibt es auch heute noch. Alle haben aber dasselbe Ziel: das Leben diskriminierter Gruppen zu verbessern. In welcher Ausformulierung und welches Gewicht die einzelnen Argumente haben, kann sehr unterschiedlich sein. Und das ist auch gut so – man darf sich über die Inhalte streiten und manchmal Kompromisse finden. Und man muss Ambivalenzen aushalten können. Eine feministische Analyse ist für mich erst vollständig, wenn die verschiedenen Inhalte miteinander verbunden werden können und man zusammenarbeitet.

Warum brauchen wir auch im Jahr 2022 Feminist:innen?

Weil wir immer noch in einer unglaublich ungerechten Gesellschaft leben. Die Interessen der Frauen und weiterer diskriminierter Gruppen werden zugunsten anderer weiterhin hinten angestellt. Es hat sich zu wenig geändert und momentane Situationen und Debatten zeigen, dass es ganz sicher nicht in die richtige Richtung geht.

Wie sieht Ihrer Meinung nach die Frau der Zukunft aus?

Ich glaube nicht, dass die Frau der Zukunft auffallend anders ist. Es ist nicht die Frau, die sich ändern muss in der Gesellschaft. Die Frage ist eher, wie die Zukunft der Frau aussieht. Und diese ist frei. Dort kann die Frau ohne Angst nachts durch die Strassen gehen, hat eine gesicherte und vor allem lebenswerte Rente, kann ihre Arbeit aufteilen und mit anderen teilen. In Zukunft muss die unbezahlte Care-Arbeit mit bezahlter Arbeit gleichgestellt werden. Jegliche Lebensentwürfe müssen anerkannt werden. Und der Profit darf nicht an erster Stelle stehen.

Was raten Sie Menschen, die sich weltweit für die Rechte weiblicher Personen einsetzen möchten?

Kollektiv lässt sich besser etwas bewirken. Man soll sich unbedingt mit anderen Feminist:innen vernetzen. Hierdurch realisiert man, dass man nicht alleine ist mit seinen Bedürfnissen, mit dieser Wut oder Ohnmacht. Dadurch entsteht Schlagkraft und diese brauchen wir. Frauen bilden über 50 Prozent der Gesellschaft und haben somit auch das Anrecht auf über die Hälfte der öffentlichen Räume. Dieses Recht muss erfüllt werden.

Ausserdem empfehle ich immer auch, den eigenen Sexismus und Rassismus zu hinterfragen. Wir alle sind mit Vorurteilen aufgewachsen. Das heisst aber nicht, dass wir diese für immer mit uns tragen müssen.

Und zu guter Letzt: Wir alle wissen viel und haben einige Erfahrungen gesammelt. Feminismus heisst auch, sich auszutauschen und dieses Wissen weiterzugeben. Wenn wir teilen und uns gegenseitig anerkennen, dann kann das nur grossartig werden.

Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft?

Ich wünsche mir manchmal mehr Zeit, Ruhe und Rationalität in politischen Analysen. Man sollte sich Zeit nehmen, um zu analysieren, wo überall benachteiligt wird und warum. Momentan rennt der gesellschaftliche Diskurs oft von einem Geschrei zum nächsten. Dabei wird aber die systematische Problematik nicht hinterfragt. Das muss sich ändern. Nur so kommen wir vorwärts.

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Klimagerechtigkeit und Feminismus

Auch Klimaschutz und -gerechtigkeit ist im Grunde ein feministisches Anliegen. Die Juso Schweiz hat die Initiative für eine Zukunft lanciert, um eine soziale Klimapolitik zu fördern.

Weitere Informationen direkt auf der Seite der «Initiative für eine Zukunft».

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