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Fakten oder Fiktion? Die Frage des fairen Zugangs zu Invalidenleistungen

08.04.2021
von SMA

Die schweizerische Invalidenversicherung verfolgt sinngemäss ein einfaches Ziel: Gesundheitlich Beeinträchtigten die Existenzgrundlage durch Eingliederungsmassnahmen oder Geldleistungen sichern. Bei der Umsetzung dieser Vorgabe stützt sie sich aber oft zu Ungunsten der Betroffenen auf realitätsfremde Fiktionen statt auf Fakten ab.

Der faire Zugang zu Invalidenleistungen war in den vergangenen Jahren Gegenstand grösserer Kontroversen in der Politik und der Rechtswissenschaft, wobei insbesondere die Thematik der medizinischen Gutachten, also die gesundheitliche Komponente des Invaliditätsbegriffs, im Vordergrund stand. Weniger Aufmerksamkeit wurde der erwerblichen Seite des Invaliditätsbegriffs geschenkt.

Den Stein ins Rollen bringen

Die Coop Rechtsschutz AG stellte im Rahmen der Bearbeitung von tausenden sozialversicherungsrechtlicher Rechtsfällen fest, dass gesundheitlich dauernd in ihrer Erwerbsfähigkeit beeinträchtige Menschen durch die Maschen der Invalidenversicherungen fallen. Dies, weil von der Verwaltung und den Gerichten für die Beurteilung des Invaliditätsgrades auf Fiktionen und pauschalierte Annahmen zurückgegriffen wird, welche die realen Verhältnisse nicht abbilden. Die Coop Rechtsschutz AG wollte dieses Thema an die Front bringen und die Diskussion ankurbeln. Sie hat deshalb bei renommierten Gutachtern wissenschaftliche Studien in Auftrag gegeben, die im Februar 2021 im Rahmen des ersten Weissenstein Symposiums präsentiert wurden.

Der fiktive Arbeitsmarkt

Die Gutachter Prof. Dr. iur. Thomas Gächter und Dr. iur. Philipp Egli kommen zum Schluss, dass der für die Bestimmung des Invaliditätsgrades vergleichsweise herangezogene ausgeglichene Arbeitsmarkt von der Verwaltung und den Gerichten in den letzten Jahren immer mehr in Richtung einer abstrakten Fiktion gerückt wird und sich stetig mehr vom real existierenden Arbeitsmarkt entfernt.

Diese Fiktion geht von einem Arbeitsmarkt aus, auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht und der auch Nischenarbeitsplätze anbietet. Dies führt dazu, dass die Invalidenversicherung bei der Bemessung des Invaliditätsgrades von einer fiktiven (Rest-) Erwerbsfähigkeit ausgeht, die in vielen Fällen mangels entsprechender real existierender Angebote und wegen der bloss marginal berücksichtigten persönlichen Verhältnisse gar nicht ausgeübt werden kann. Für die betroffene Person lässt sich keine reale Stelle finden. Als Folge davon erhalten behinderte Menschen oft keine oder aber eine signifikant reduzierte Leistung der Invalidenversicherung.

Hinzu kommt, dass die Rechtsprechung bezüglich der Einkommen, welche in diesen Resterwerbstätigkeiten erzielt werden können, zumeist auf die Schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE) abstellt. Hiervon werden als Korrekturinstrument in gewissen Fällen sogenannte leidensbedingte Abzüge gewährt, was in der Regel zu einer Erhöhung des Invaliditätsgrades führt. Klare und einigermassen voraussehbare Leitlinien bestehen aber nicht. Die in der erwähnten LSE aufgeführten Medianlöhne ergeben sich hauptsächlich aus der Erhebung von Löhnen gesunder Personen und widerspiegeln daher die von beeinträchtigten Personen erzielbaren Löhne nur unzureichend wider. Die von der Coop Rechtsschutz in Auftrag gegebene Studie des Büros für Arbeits- und Sozialpolitische Studien BASS AG untersuchte in der Folge schweizweit erstmals die statistisch nachweisbaren Lohneinbussen von behinderten Menschen und kommt unter anderem zum Schluss, dass die Löhne von erwerbstätigen IV-Rentnerinnen und -Rentnern rund 14 Prozent unter dem Mittel- und gar 17 Prozent unter dem Medianlohn der LSE-Erhebungen liegen. Dies führt zu einer weiteren ungerechtfertigten Benachteiligung behinderter Personen.

Die Gesetzesrevision zur Weiterentwicklung der IV geht in die falsche Richtung

Zusätzliche Brisanz erhielten die Studien durch die Tatsache, dass bis am 19. März 2021 das Vernehmlassungsverfahren zur Weiterentwicklung der Invalidenversicherung lief. Im Rahmen dieser Gesetzesrevisionsollen die zur Bemessung des Invaliditätsgrades massgebenden Erwerbseinkommen sowie die anwendbaren Korrekturfaktoren auf Verordnungsstufe geregelt werden. Dabei soll ausdrücklich festgehalten werden, dass die Medianwerte der Lohnstrukturerhebung heranzuziehen seien. Leidensbedingte Abzüge werden abgeschafft. Die geplante Revision verstärkt damit den Trend weg von einer realitätsgerechten Betrachtung hin zur Fiktion in der Invaliditätsbemessung. Noch mehr gesundheitliche beeinträchtigte Personen würden um ihre berechtigten Ansprüche gegenüber der Invalidenversicherung gebracht und an die Sozialhilfe weitergereicht werden.

Quo vadis IV?

Es bleibt zu hoffen, dass die Invalidenversicherung, bzw. aktuell der Bundesrat, den Ball jetzt aufgreift und für einen faireren Zugang zu Invalidenleistungen sorgt. Dies im Rahmen der stattfindenden Anpassungen der Verordnung zum Invalidenversicherungsgesetz. Die dafür notwendigen Grundlagen, die Fakten, liegen mit den nun vorliegenden Gutachten weitestgehend auf dem Tisch. Das ist auch die Hoffnung und der Appell von Prof. Thomas Gächter der in seinem Referat am 1. Weissenstein Symposium die sinngemässe Frage stellte: Ist es denn wirklich nötig, dass am Schluss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eingreifen und den Stein ins Rollen bringen muss? Wir hoffen es nicht.

Die Referenten des Weissenstein Symposiums

Dr. iur. Philipp Egli

Prof. Dr. iur. Thomas Gächter

Prof. Dr. iur. Thomas Gächter

Dr. iur. Michael E. Meier

Dr. iur. Michael E. Meier

lic. rer. soc. Jürg Guggisberg

lic. rer. soc. Jürg Guggisberg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Studien und weiterführende Informationen

Die umfassenden Studien „Grundprobleme der Invalidätsbemessung in der Invalidenversicherung“ von Prof. Dr. iur. Thomas Gächter (UZH), Dr. iur. Philipp Egli (ZHAW), Dr. iur. Michael Meier (UZH), Dr. iur. Martina Filippo (ZHAW) und „Nutzung Tabellenmedianlöhne LSE zur Bestimmung der Vergleichslöhne bei der IV-Rentenbemessung“ von lic rer. soc. Jürg Gussisberg des Büros für Arbeit – und Sozialpolitische Studien BASS AG wurden im Rahmen des von der Coop Rechtsschutz am 5. Februar 2021 virtuell durchgeführten Weissenstein Symposiums erstmals dem Publikum vorgestellt. Sie stehen auf der Seite www.wesym.ch zum Download bereit.

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