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Deutschland Mobilität

Verkehrter Verkehr

31.10.2022
von Rüdiger Schmidt-Sodingen

Ruhe in der Stadt, Staus auf dem Land? Während in den Städten bestehende Konzepte überdacht werden und mehr Menschen mit E-Rollern unterwegs sind, wächst auf dem Land das, was man früher Stadtverkehr nannte. 

Ein Sieger der Verkehrswende ist schon mal ausgemacht: der Kreisverkehr. Unzählige Gemeinden und auch Stadtteile drehen ihre Autos nun gerne im Kreis statt sie vor Ampelsysteme oder in Staugebilde zu packen. Die Renaissance des Kreisverkehrs, der in der Mitte ja auch schick begrünt werden kann, wirft ein Schlaglicht auf die Verkehrsveränderungen und -anforderungen in der Stadt und auf dem Land.

Während die Städte gerade darum kämpfen, immer mehr Verkehr aus der Innenstadt zu verbannen, müssen sie gleichzeitig intelligente Zufahrtsysteme etablieren, Lieferungen und Einsatzwagen zulassen und für mehr Leben auf dem frisch verlegten Fußgängerasphalt sorgen. In Düsseldorf wurde der Verkehr von einer Hochbrücke, dem sogenannten Tausendfüßler, komplett unter die Erde verlegt. Oben wird jetzt rheinisch frohnatürlich geschmaust und in den riesigen Tunneleingang geguckt.

Entschleunigen in der Stadt, beschleunigen auf dem Land

München hat die berühmte Sendlinger Straße 2017 zur Flaniermeile mit vielen Baumbänken und Blumenkübeln umgebaut. Noch etwas zaghaft setzen sich die Münchner und Touristen auf die kreisrunden Bänke und gucken verlegen in die Baumkronen, wo nebenan einstmals hektisch die Laster der Süddeutschen Zeitung und auch Abendzeitung um die Ecke quietschten und man fast immer in zweiter Reihe parkte. Und in Berlin-Tegel suchen die Menschen auf der wiedereröffneten Gorkistraße gerade nach so etwas wie »Lebensqualität«, die sich doch automatisch einstellt, wenn man die Motoren abstellt. Schon seit 1972 ist die berühmte Gorkistraße ohne Autos. Aber es ist eben auch eine Kunst, Straßen ohne Autos in zeitgemäße Treffpunkte oder Verweilplätze zu verwandeln. 

Anders geht es währenddessen auf dem Land zu. Besonders in den Speckgürteln fordern die zuständigen Gemeindeverwaltungen einen schnellen Ausbau vorhandener ÖPNV-Strukturen, um vor allem auch die jungen Leute zu halten. Denn die wollen nach der Schulzeit meist in die großen Städte zu den großen Universitäten und Fachhochschulen. Mit Boarding Houses, die als Investition mit drei Prozent Rendite angeboten werden, sollen Student:innen sich am Rande der Gemeinde ein Apartment »dahoam« mieten können.

Überhaupt hat der Mobilitätsmix in den Gemeinden offenkundig eine erheblich höhere Bedeutung, da er eben noch zu wenig »Mix« ist. Gemeindebusse fahren zu selten, Umsteigemöglichkeiten zu individuellen »Last Mile«-Fahrzeugen sind praktisch nicht vorhanden. De facto wird der Verkehr mit Autos mehr – auch und gerade an Orten, die sonst sehr auf Nachhaltigkeit und Bio setzen. Regnet es, stehen vor der Schule eben keine Lastenfahrräder mehr, sondern wieder die guten alten oder neuen Autos mit höchstens zwei Personen aus dem eigenen Haushalt. 

Neue Plattformen und Modellprojekte 

Dabei gibt es längst Möglichkeiten, die individuelle Mobilität kurzfristig und trotzdem umfassend und kooperativ zu planen. Dr. Karina Villela, Project Manager Digital Innovation Design am Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern, arbeitet gemeinsam mit mehreren Partnern aus der Wirtschaft an der Mobilitäts-Plattform Smart MaaS, Mobility as a Service, die Menschen schnell einen Überblick verschaffen soll, wie sie von einem bestimmten Punkt schnell oder kostengünstig oder beides an den nächsten Punkt kommen. Das Komplementärmodell KomMaaS nimmt unter der Regie von Senior Requirements Engineer Matthias Koch besonders Landflächen ins Visier, um dort individuell anpassbare Routen für Bürgerbusse und Privat-Pkws zu errechnen. 

Mit dem Modell LandStadt Bayern will das Bayerisches Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr ab sofort zudem die Entwicklung neuer Quartiere und Mobilitätskonzepte in Kommunen anschieben. »Ich bin überzeugt, dass unsere Kommunen zukunftsfähige Quartiere entwickeln können, in denen Wohnen, Arbeiten, Mobilität, Energienutzung und Digitalisierung neu gedacht und verknüpft werden«, sagt Staatsminister Christian Bernreiter. Nun sind zehn ausgewählte Kommunen an der Reihe, den Worten und bewilligten Anträgen Taten folgen zu lassen. Ein wichtiger Punkt wird sein, wie Brachflächen erstens günstige Wohnungen und dann Mobilitätsmöglichkeiten bekommen, die kooperativ Menschen aus der ganzen Gegend zusammenführen. Eventuell lassen sich straßen- und blockweise eben doch Fahrgemeinschaften oder auch Mini-Shuttles etablieren, die den anonymen Stadtverkehr neidisch machen werden.  

Ein Ziel des bayerischen Modells: Die Übergänge zwischen Stadt und Land sollen bau- wie verkehrstechnisch fließender werden. Und so könnte man im Umkreis vieler Städte bald Fragen stellen, wie sie in Brandenburg schon seit Jahren und Jahrzehnten an der Tagesordnung sind: »Sach ma, iss dit eijentlich schon Berlin?«

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